Der Ausstieg von Robin Simon war ein weiterer Rückschlag für Chris, Billy und Warren. Es sah zunächst nach einer Auflösung der Band aus. Doch die Besinnung erfolgte anhand der Betrachtung der eigenen Geschichte. Sie hatten doch einiges erreicht, und es wäre töricht gewesen, nicht zumindest einen Neustart zu versuchen. Zudem stellte ihnen John Foxx frei, den Bandnamen auch weiterhin zu verwenden. Also begab man sich auf die Suche nach einem neuen Sänger und einem neuen Gitarristen. Die Idealvorstellung lag darin, jemand zu finden, der beide Aufgaben gleichzeitig übernehmen könnte. Denn wenn schon die markante Stelle des Frontmanns besetzt werden soll, dann bevorzugt durch jemanden, der selbst Musiker ist und nicht ein weiterer Sänger mit Sonderstatus. Zu der Zeit arbeitete Billy an einem anderen Projekt namens Visage, bei dem unter anderem auch Rusty Egan und Midge Ure beteiligt waren. Egan hielt Ure für die ideale Besetzung für Ultravox, da er sowohl singen als auch Gitarre spielen kann. Also bedrängte er Billy dahingehend aktiv zu werden, da er auch wusste, dass Midge großes Interesse daran hatte, die markante Stelle bei Ultravox zu besetzen.

Doch Midge selbst wollte sich nicht selbst ins Spiel bringen und wartete darauf, gefragt zu werden. Immerhin hatte Ultravox zu diesem Zeitpunkt bereits drei Alben veröffentlicht und er hielt deren letztes, Systems of Romance, für das beste Werk. Als Billy sich endlich der sich bietenden Möglichkeit bewusst wurde, arrangierte er ein Treffen mit Warren und Chris. Dabei waren die Verbliebenen von Ultravox skeptisch, da er nach seinen bisherigen Engagements bei Slik und den Rich Kids aus einer musikalischen doch eher anders orientierten Ecke kam. Aber sie trafen sich, und Warrens größte Sorge, dass es sich um einen humorlosen Zeitgenossen handeln könnte, zerschlug sich nach ein paar gemeinsamen Stunden im Pub. Auch deshalb, weil er sich nicht sträubte, sich an den obligatorischen Runden zu beteiligen. Nach einigen Proben stellte sich heraus, dass Rusty Egan Wohl daran getan hatte, Midge nachhaltig in die Band zu drängen. Denn er entpuppte sich nicht nur als guter Gitarrist, sondern auch, so Warren, als guter Sänger und nicht jemand, der seine Meinung einfach herausschreit. So war man sich sicher, auf der Suche nach der richtigen Person fündig geworden zu sein, um das neue Line-Up der Band zu vervollständigen und die ersten gemeinsamen Proben in Angriff zu nehmen. Um sich während dieser Übergangsphase aber auch finanziell über Wasser halten zu können, waren alle drei mit anderen Projekten unterwegs.

 

Billy, mit Midge immer noch bei Visage aktiv, tourte mit Gary Numan. Midge ersetzte auf der Bühne Gary Moore nach dessen Ausstieg bei Thin Lizzy, während Warren mit der Zaine Griff Band tourte, dort Hans Zimmer kennen lernte und sich plötzlich bei Pop Of The Tops auf der Bühne wiederfand, um dort Video Killed The RadioStar zu performen. Auch Chris Cross war nicht untätig und arbeitete eine Zeit lang mit James Honeyman-Scott von The Pretenders, Barrie Masters von Eddie And The Hot Rods und Steve Nicols von The Rods zusammen. Somit waren alle Bandmitglieder sehr erfolgreich unterwegs. Leider nicht mit der eigenen Musik.

 

ALTLASTEN

Ganz ohne Schwierigkeiten verlief Midge’s Einstieg bei Ultravox dann doch nicht. Denn bevor die Nachricht, dass Ultravox noch existierte und einen neuen Gitarristen und Sänger hatte, publik gemacht werden durfte, gab es noch rechtliche Probleme zu lösen. Zu dem Zeitpunkt war Midge noch an seinen alten Vertrag mit der EMI gebunden, der aus seiner Zeit bei den Rich Kids resultierte. Um aus seinem Deal mit Martin-Coulter zu kommen, verzichtete er auf seine Rechte an allen Songs der Band. Dass er inoffiziell bereits bei Ultravox eingestiegen war, musste auch weitere sechs Monate verheimlicht werden, bis sein Vertrag bei der EMI enden würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ultravox bereits Kontakt zu Chris O’Donnell und Chris Morrison, die sich unter anderem auch für das Management von Thin Lizzy verantwortlich zeigten. Insbesondere Chris Morrison war schwer beeindruckt davon zu hören, dass eine Band ohne Manager durch die USA touren und dabei noch einen Gewinn erzielen können. Er kündigte an, eine künftige Tour durch die Staaten finanziell unterstützen zu wollen. Zuvor sprachen Morrison und O’Donnell mit Brian Shepard von der EMI über einen möglichen Ausstieg von Midge aus seinem Vertrag. Der zeigte sich diesem alles andere als willig, vermutete Profit und verlangte plötzlich eine prozentuale Beteiligung. Letztendlich lenkten er und EMI aber doch ein, als juristische Schritte angedroht wurden unter dem Aspekt, dass Rusty Egan als Schlagzeuger auch gehen durfte. Wie die meisten anderen Plattenfirmen glaubten auch sie, dass sich Ultravox sowieso in einer Sackgasse befand. So konnte am 01. November 1979 Midge Ure offiziell als neues Bandmitglied von Ultravox vorgestellt werden. Mit neuer Besetzung wurden auch wesentliche Bestandteile festgelegt, die in der alten Besetzung immer wieder zu Streitigkeiten geführt haben: Die finanzielle Beteiligung jedes Bandmitglieds. Die Rechnung schien einfach. Vier Leute gleich fünfundzwanzig Prozent für jeden. Jeder Song hatte vier Autoren, unabhängig, welchen Anteil jeder mit eingebrachte und wer für was verantwortlich war. Es sollte so sein, dass über alles diskutiert werden konnte. Nur über eines nicht: Geld. Eine unübliches Agreement innerhalb einer Band.

Doch man erhoffte sich, ihr auf diese Weise eine überdurchschnittliche Lebensdauer zu bescheren. So entwickelte sich das zunächst auch musikalisch in Sachen Songwriting. Jeder brachte Ideen ein, welche aufgegriffen und kollektiv bearbeitet wurden, bis ein befriedigendes Resultat vorhanden war. Zu den bereits im Stillen entstandenen Songs kamen weitere hinzu, bevor es in die USA auf Tour ging. Aber der Punkt, mit komplett neuem Material an den Start zu gehen, war noch nicht erreicht. Zwar gab es Songs von Ultravox, doch eben nur die, die mit John Foxx als Sänger performed wurden. Außerdem hatte die Band bereits eine Fangemeinde. Es galt den Grat zu finden, diese nicht gänzlich zu verlieren, um gleichzeitig aber auch neue Anhänger zu gewinnen; um deutlich zu machen, dass Midge kein Ersatz für John Foxx war, sondern dass ein neues Kapitel der Bandgeschichte begann. Ultravox haben sich entwickelt. Dennoch; Midge mochte von der Systems of Romance insbesondere die Songs „Hiroshima-Mon Amour“, „Quiet Man“ und „Slow Motion“, und so wurden diese Songs Bestandteil der ersten Konzerte in England. Die Akzeptanz war überraschend gut und unter dieser Voraussetzung ging er rüber in die Staaten. Der Vorsatz war, etwas Geld zu verdienen und aus einer Position der Aufmerksamkeit heraus nicht gleich die erste Möglichkeit, einen Vertrag abzuschließen, nutzen zu müssen. Außerdem war die Band vor kurzem erst dort und man hatte sich auch dort einen Namen gemacht. Und Midge Ure konnte ebenfalls mit den Rich Kids in Verbindung gebracht werden, die in den USA nicht gänzlich unbekannt waren. Doch es lief nicht wie erwartet. Finanziell war die Tour ein Verlustgeschäft und der Versuch, die Plattenfirmen auf sich aufmerksam zu machen, scheiterte. Wieder zurück in Großbritannien hatte Chrysalis zwar Interesse, war aber noch nicht gänzlich überzeugt. Auch die Vortäuschung der (falschen) Tatsache, dass A&M ein Angebot vorgelegt hätte, zog nicht. Die Arbeiten im Proberaum während der Konstruktionsphase von „Vienna“ ließen das Interesse von Chrysalis weiter sinken und das Fehlen von Demobändern entpuppte sich als Nachteil. Ultravox verzichtete bewusst auf Demos, weil eine Aufnahme eine bestimme Stimmung und Atmosphäre enthalten sollte. Diese ist entweder auf den Demos nicht enthalten oder sie ist da, kann aber später bei der richtigen Aufnahme nicht wieder erzeugt werden.


Die allgemeine Ansicht der Labels, nur in einem gut eingerichteten Tonstudio für viel Geld gute Aufnahmen machen zu können, wurde als Unsinn angesehen. Also beharrte die Band darauf, dass man während der Proben anwesend sein oder sich die Aufnahmen, welche Warren ständig mit Kassette machte, ausleihen und anhören könnte. Chrysalis gab dahingehend nach, als dass ein Ultimatum gestellt wurde. Ultravox bekam für zwei Tage ein Studio zur Verfügung gestellt. Statt aber zwei bis drei Demos aufzunehmen, holte man sich Conny Plank mit ins Studio und nahm „Sleepwalk“ als fertige und als single-taugliche Aufnahme auf. Aufgrund dieser einen Produktion konnte endlich der Plattenvertrag unterzeichnet werden, und die Aufnahmen für das Album beginnen. „Astradyne“, was aus dem lateinischen „Per ardua ad astra“ (dem Motto „Through Adversity To The Stars“ der Royal Air Force) und „Rocketdyne“, einer Luftfahrtgesellschaft, entstanden ist. Und die markante Ähnlichkeit zwischen „Mr. X“, einem der ersten Songs des neuen Besetzung, und dem Intro von „Touch & Go“ von John Foxx auf dessen Debütalbum „Metamatic“ soll zwar keine Absicht sein, ist aber eindeutig. Etwa die Hälfte der Texte stammen aus der Feder von Warren. Zwangsläufig orientierte sich der schriftliche Teil der Songs auch in eine andere Richtung. Inhaltlich blieben gesellschaftliche Themen zwar Grundlage der Texte, doch die Sichtweise verschob sich vom Beobachter zum Betroffenen. Dass der Titel „Vienna“ aus einem Kommunikationsproblem resultiert, ist ebenso unglaublich, wie wahr. Ihr solltet einen Song wie dieses „Vienna“ schreiben, so Brenda, die Frau seines ehemaligen Managers Gerry Hempstead zu Zeiten der Rich Kids. Midge verstand nicht und sie wiederholte: Vienna. So wie das von Fleetwood Mac. Da erst machte es Klick. Sie meinte „Rhiannon“. Aber „Vienna“ ging nicht mehr aus seinem Kopf und er erzählte den anderen von seinem Ohrwurm und der entsprechenden Textzeile: This Means Nothing To Me, Vienna.

Die Sache nahm ihren Lauf. „New Europeans“ war einer der wenigen Songs, bei denen der Titel vor der Musik existierte. Die Drums von „Western Promise“ wurden unter Protest der Anwohner abends in der Eingangshalle der RAK Studios aufgenommen, und „Private Lives“ hatte laut Warren als Originaltitel „Hollywoodämmerung“. Wie bei fast allen Songs des Albums war auch „All Stood Still“ spieltechnisch eine absolute Herausforderung. Insbesondere live, weil das Tempo nicht von den Drums, sondern von dem synthetischen Bass vorgegeben wurde, welchen Chris Cross über den Mini-Moog spielte. Zu der Zeit war Midi noch nicht geboren, um die unterschiedlichen Tempi der Geräte untereinander zu synchronisieren. Also entwickelte man durch die Impulsmessung des Stroms eine Art Tempoerkennung mit LED-Beleuchtung, um die Geräte aufeinander abstimmen zu können. Dabei wurde vorher bei jedem Song die Stromstärke beim erwünschten Tempo gemessen. Nebenbei empfand es Midge dabei als äußerst amüsant, dass insbesondere die Journalisten nicht in der Lage waren, den Unterschied zwischen seiner Gitarre und Billys verzerrtem ARP zu hören. Viele glaubten irrtümlich, dass er die ganze Zeit nur Keyboard spielen würde. Und genau das war es auch, was Ultravox von anderen Bands dieser Zeit (wie Depeche Mode oder Human League) unterschied, da diese ausschließlich Synthesizer verwendeten. Da die Songs weitestgehend fertig waren, zuvor bereits ausgiebig geprobt und mitunter auch schon live gespielt wurden, dauerte der Prozess der eigentlichen Aufnahme nicht mehr als zehn Tage. So war genug Zeit, um sich auf Experimente einzulassen. Mitunter spielte Billy Currie seine Violine sogar auf der Herrentoilette ein. Kompliziert wurde es, als der Song „Vienna“ aufgenommen wurde. Der instrumentale Soloteil hatte im Gegensatz zum Rest des Songs ein schnelleres Tempo. Doch selbst das Schneiden der Bänder, um die getrennt voneinander aufgenommen Teile zusammenzufügen, brachte Conny Plank nicht aus der Ruhe. Die bisherigen Erfahrungen, welche die Vier auf ihren Wegen gesammelt haben, spiegeln sich im Ergebnis wieder.

Aus Kostengründen erfolgte die eigentliche Aufnahme des Albums in London, das Mischen aber wieder in Planks Studio. Nach zwei weiteren Wochen in entspannter Atmosphäre war das Album fertig. Doch einen Namen hatte es noch nicht. Warren erinnert sich, dass schon während der Abmischphase an einem Küchentisch in Planks Studio über mögliche Namen nachgedacht wurde. Doch die Eingebungen blieben aus und lediglich Warren brachte den Vorschlag „Torque Point“ ein. Billy fand die Idee ganz gut, während Chris und Midge dem Vorschlag eher distanziert betrachteten. Da aber niemand einen besseren Vorschlag machte, entwickelte sich „Torque Point“ zu einer Art Arbeitstitel, der somit auch bis zu Chrysalis durchdrang. Eine ernsthafte Verwendung wurde aber nie in Erwägung gezogen, doch landete der Titel dennoch auf dem Cover einiger Testpressungen. Es dauerte eine Zeit, bis sich das Offensichtliche im Bewusstsein aller Beteiligten manifestierte und „Vienna“ als der perfekte Titel für das Album erkannt wurde.


THREE INTO ONE - Island Records bemerkte, dass sich bei Chrysalis in Sachen Ultravox etwas bewegte. Um noch auf den finanziellen Zug aufzuspringen, entschloss man sich dort zur Veröffentlichung eines Best-of-Albums mit zehn Songs aus der John- Foxx-Ära, das am 6. Juni 1980 mit dem Titel „Three Into One“ erschien. Auf diesem Weg gelang es Chris und Warren, sich nachträglich für den Rauswurf an sich, insbesondere aber für die Art und Weise der Umstände, unter denen die Trennung vollzogen wurde, zu revanchieren. So wurden beide in der künstlerischen Abteilung von Island Records vorstellig, um bei der Gestaltung des Covers mitzuwirken. Zunächst lehnten sie alle Vorschläge des Grafikers ab. Als er dann aber die Idee hatte, seine Freundin in einer Art Kostüm von Autoscheinwerfern bestrahlen zu lassen, gaben Chris und Warren vor, davon begeistert zu sein. Das fertige Cover zeigt auf, dass ihnen ihre kleine Vergeltung geglückt ist.
 


SLEEPWALK - PASSING STRANGERS
 

Am 05. Juli 1980 wurde „Sleepwalk“ mit der B-Seite „Waiting“ als erste Single veröffentlicht. Ein Video dazu gab es nicht und es wurde zur visuellen Umsetzung ein Liveauftritt in St. Albans verwendet. Doch mit Platz 29 in den Charts bleibt „Sleepwalk“ hinter den Erwartungen zurück. Das Album selbst erschien am 11. Juli 1980 und überzeugte zwar nicht alle komplett, aber weitestgehend doch die musikalische Fachpresse auf der Insel. Einige sahen den Weggang von John Foxx als nicht kompensierbar an. Andere hingegen sahen darin eine Entwicklung, sogar eine Art der Befreiung von der allgegenwärtigen Präsenz des einstigen Frontmanns. Während der New Musical Express von atmosphärischer Elektronik sprach, ließ der Sounds keinen Zweifel an der musikalischen Meisterschaft. Die Musik sein ein mutiger Schritt, die eine gewisse Zeit der Akzeptanz abwarten müsse, so David Jeffries von Allmusic. Besonders die neue Kombination aus dem typischen Sound von Ultravox in Verbindung mit Ures Stimme und seinen präzisen Gitarrenriffs verliehen der Band ein einzigartiges Klangbild mit extrem hohen Wiedererkennungswert.

Aber auch in Deutschland kam das Album trotz Skepsis hinsichtlich der musikalischen Neuausrichtung gut an. „Vienna ist ihr viertes Album und vermittelt das Gefühl eines ersten und hat für Ultravox eine ungewöhnliche Konsistenz“, so der Musikexpress im Dezember 1980. „Wer nach John Foxx Abgang auf Ultravox Ende getippt hatte, lag gründlich daneben. Die neuen Ultravox warten mit einem strikten, fetten Rhythmus auf, der auf Synthi-Wände prallt. Verspielte Keyboardklänge und psychedelisch rockende Gitarren umschwirren diesen Gesamteindruck, der durch kühlen, aber keinesfalls gefühllosen Gesang abgerundet wird.“ Die Fachwelt war aufmerksam geworden, was durch Platz 3 in den britischen Album-Charts deutlich unterstrichen wurde. Derweil drängten zumindest Midge, Chris und Warren vehement darauf, als nächstes „Vienna“ zu veröffentlichen. Doch Chrysalis sträubte sich, da es mit sechs Minuten nach wie vor als zu lang, zu langsam und zu kompliziert angesehen wurde. Dem Song wurde fehlende Radiotauglichkeit vorgeworfen, weil es dem damaligen Konzept von Musik völlig widersprach. So entschieden sie sich für „Passing Strangers“ mit der Vereinbarung, „Vienna“ dann als dritte Auskopplung zu veröffentlichen.


So erschien die zweite Single am 18. Oktober 1980 mit „Face To Face“ (während der US-Tour 1979 noch „Sound To Sound“) als B-Seite der Single-Version und zusätzlich „Kings Lead Head“, einem nur live gespielten Song (mit Billy Currie an der Gitarre) von Brian Eno, auf der Maxi-Single. Unter der Regie von Russell Mulcahy wurde dazu auf dem stillgelegtem Industriegelände von Beckton Gas Works (diente 1987 auch als Kulisse zu Full Metal Jacket) im Londoner East End auch das erste Video der Bandgeschichte gedreht, in dem neben den Bandmitgliedern selbst auch Barbie Wilde und Sean Crawford von Shock (später Tik & Tok) mitspielten. Der Kontakt kam über Russell Mulcay und Peta Lily, einem ehemaligen Mitglied von Shok, zustande. „Ich habe mir durch die ganze Rennerei ein gutes Paar Schuhe ruiniert“, so Barbie Wilde nach dem Dreh. Ihr war wohl nicht klar, wie viel sie an dem Drehtag laufen mussten. Dazu kam, dass sie als Asthmatikerin ihr Spray vergessen hatte. „Ich kann kaum glauben, dass wir die Explosion unbeschadet überstanden haben“, setzte sie fort. Tatsächlich entsprach der erste Versuch nicht den Vorstellungen und beim zweiten meinte es der Pyrotechniker etwas zu gut mit der verwendeten Menge an Petroleum. „Wir haben deutlich die Druckwelle auf unseren Rücken spüren können.“ Auch die letzte Szene des Videos, in der die beiden im Boden versinken, entpuppte sich als körperliche Herausforderung.

Um den gewünschten Effekt zu erzielen, sollte die Szene nachher rückwärts abgespielt werden, weshalb sie stundenlang mit Granulat zugeschüttet warten mussten, bis endlich gedreht wurde. „Bis dahin waren meine Beine längst eingeschlafen und ich musste anschließend aufgefangen werden.“ Gedreht wurde das Video zwar nicht im Breitbildformat, doch wurde dieser Effekt durch die nachträgliche Einblendung der dafür charakteristischen schwarzen Balken erzielt. Die Verbindung mit der schnellen Bildfolge unter Verwendung von Pyrotechnik und Trockeneis lässt das Video wie einen kurzen Kinofilm wirken. Obwohl auch das Video nicht dafür sorgen konnte, dass mehr als Platz 57 in den Charts heraussprang, hatte Ultravox mit dem Medium Video ein neues Terrain betreten. Neue Ideen und Gedanken reiften bereits heran, auf diesem Gebiet weiter tätig zu werden. Endlich stimmte auch Chrysalis zu, „Vienna“ als dritte Auskopplung des Albums zu veröffentlichen. Zunächst sollte der Song dafür jedoch gekürzt werden. Dieser Standpunkt änderte sich, nachdem Labelboss Chris Wright bei einem Konzert der Band persönlich zugegen war. Er hatte mitbekommen, wie das Publikum während des Songs aufstand und sich nicht wieder hinsetzte. Er erlebte hautnah die Stimmung, welche der Song live transportiert. Anschließend sagte er nur: „Ihr habt recht. Macht es.“ Doch zunächst musste der Dezember abgewartet werden, da die Playlisten der Radiostationen bereits feststanden und eine Veröffentlichung kurz vor Weihnachten keinen Sinn machte, da der Song nicht gespielt werde würde.

VIENNA
 

„Vienna“ wurde den Sendern zugesandt und im Januar bereits gespielt, bevor er am 15. Januar 1981 als Single veröffentlicht wurde. Es stieg in die Charts ein, weshalb Chrysalis nicht mehr die Notwendigkeit sah, die Kosten für eine weitere Videoproduktion zu übernehmen. Insbesondere nach den mäßigen Erfolgen der bisherigen Auskopplungen. Aber es wurde der Band freigestellt, die Produktion auf eigene Kosten vorzunehmen, womit sie sich auch einverstanden erklärte. Die B-Seite der Single enthielt mit „Passionate Reply“ einen Song, der erst kurz zuvor während einer kleinen Tour in den USA aufgenommen wurde. Chrysalis rief an und sagte, dass noch ein Track für die B-Seite von „Vienna“ benötigt werden würde. Da man keine Songs auf Abruf parat hatte und sich die aufgenommen Stücke alle auf dem Album befanden, wurde kurzfristig in Miami ein Tonstudio („Criterion“) aufgesucht, in denen bereits die Bee Gees einige ihrer Hits aufgenommen hatten. „Passionate Reply“ existierte bereits als Song, befand sich aber noch in der Entstehungsphase. Innerhalb von zwei Tagen, mehr ließ der Terminplan nicht zu, wurde der Song aufgenommen. Die Maxi-Single enthielt zusätzlich „Herr X“, die deutsche Version von „Mr. X“ als Tribut an die zahlreichen deutschen Fans der Band. Eines Abends während der Arbeiten in Conny Planks Studio kam er auf diese Idee. Er schlug sie den anderen Bandmitgliedern vor, die sich auch sofort einverstanden zeigten. Also nahm er an einem Nachmittag, nachdem Connys Frau Christa den Text überprüft hatte, die deutsche Tonspur auf. Dabei half Conny Plank ihm bei der korrekten Aussprache. Inhaltlich sind die beiden Texte so identisch wie die Musik selbst. So taucht auf beiden Versionen an einer Stelle das leise Geräusch eines ausgelösten Fotoapparats auf. Die Ideen für eine visuelle Umsetzung von „Vienna“ waren gereift und man sah das Video zu „Passing Strangers“ bereits als Probedurchgang an. An die Umsetzung wagte man sich mit Lexi Godfrey als Produzentin und erneut mit Russell Mulcahy. Godfrey und Mulcahy hatten zusammen mit David Mallet die Firma MGM gegründet, welche zu der Zeit nur eine von drei Unternehmen war, die sich mit dem Filmen von Musikvideos befasste. Peinlich verlegen gestaltete sich dabei, dass MGM den Song von Chrysalis erhalten hatte und nach der Präsentation erster Ideen feststellen musste, dass sie Wien mit Venedig verwechselten und Gondeln definitiv nicht benötigt wurden.


Aufgrund der Vorstellungen der Band, wie das Video werden sollte, war die Rollenverteilung bereits im Vorfeld darauf ausgerichtet, die vielen Ideen entsprechend umzusetzen. „Vienna“ war das erste Video, was in 16mm gedreht wurde. Die teilweise in schwarzweiß gedrehten Sequenzen sollten in Anlehnung an die „Film-noir-Epoche“ insbesondere dafür sorgen, dass sich Ultravox visuell von anderen Bands absetzte. Die dadurch erzeugte Stimmung hatte - zwar unbeabsichtigt, aber dennoch berechtigt - den Vergleich mit Orson Wells Klassiker „Der Dritte Mann“ zur Folge. Trotz der Eindeutigkeit des Titels wurden die meisten Außenszenen und alle Innenszenen aber nicht in Wien, sondern im nächtlichen Covent Garden und im Kilburn Gaumont Theatre mitten in London gedreht. Die weibliche Hauptrolle spielte dabei Peta Lily selbst. Für die Aufnahmen der „Party“ mietete man eine Art Club in der Nähe des Harrods. Da die Vorbereitungen der Filmcrew länger dauerten, musste man sich in Geduld üben. Zur Überbrückung der Wartezeit vergriff man sich bereits vor Drehbeginn an den alkoholischen Getränken, in erster Linie Wein, die zur Verköstigung nach Beendigung der Arbeiten bereit standen. Als es dann endlich soweit war und mit dem Dreh begonnen werden konnte, waren alle Beteiligten bereits mehr oder minder betrunken. Somit wäre auch das Rätsel gelöst, warum es in dieser einen Szene nicht geschafft wurde, dass alle gleichzeitig den Kopf in Richtung Kamera drehen. Aus der eigentlichen Absicht, eine Party für das Video nachzustellen, war schon längst eine richtige Party geworden. Aber auch in Wien selbst wurde gedreht. Mit einer minimalen Besatzung brach man für einen Tagestrip per Flugzeug von London in die Hauptstadt Österreichs auf. Mit dabei waren neben der Band Kameramann Nic Knowland, Russell Mulcahy, Lexi Godfrey, Fotograf Anton Corbijn und Paula Yates in ihrer Funktion als Journalistin für den Record Mirror. Allerdings entwickelte sich der Trip zu einer Odyssee der besonderen Art.

Viele der auserwählen Drehorte waren während der Wintermonate entweder geschlossen oder wurden renoviert. Per Taxi durchquerten sie die Stadt, um zumindest vor dem Stephansdom und auf dem Zentralfriedhof die notwendigen Aufnahmen zu machen. Das Grab des kaiserlichen Klavierbauers Carl Schweighofer kommt dabei sowohl im Video selbst vor als auch auf dem Cover zur Single. Die Abschlussszene zeigt die Band, wie sie bei untergehender Sonne in Richtung der Karl-Borromäus-Kirche läuft. Anschließend ging es wieder zurück nach London. Auf dem Rückflug begann Warrens Mythos, der von einer Tse-Tse-Fliege gestochene Mann zu sein, weil er immer und in jeder Situation schlafen konnte. Zurück in London wurde das Video geschnitten, wobei aus demokratischen Gründen die Szene, in der die Band herzhaft lachend in einem Café sitzt und die mit dem eigentlichen Video nichts zu tun hat, nicht herausgeschnitten wurde. Midge mochte diese Szene nicht. Doch der Rest, einschließlich Mulcahy und Godfrey, hielt es für eine gute Idee. Auf diesem Weg wollte der Öffentlichkeit gezeigt werden, dass Ultravox durchaus Humor und Lachen kann; dass sie nicht nur in langen, grauen Mänteln in der regnerischen Tristesse der Dunkelheit voller Ernsthaftigkeit durch das Leben schreiten. Während die Dreharbeiten zum Video noch liefen, stieg „Vienna“ bis auf den zweiten Platz der britischen Charts. Zu der Zeit hatte Top Of The Pops die Regel, dass eine Band nur in bestimmter Anzahl in einem bestimmten Format auftreten durfte. Entweder live oder per Video. Da die Band bereits live in der Sendung aufgetreten war, durfte nur noch ein Video gezeigt werden. Und da zeigte Chrysalis dann doch plötzlich reges Interesse daran und informierte sich zwischenzeitlich über den Stand der Dinge, was Ultravox natürlich mit großer Genugtuung vernahm. Und je höher die Single in den Charts stieg, desto mehr drängte Chrysalis darauf, das Video auch zu bekommen. So wurde es rechtzeitig fertig, um bei Tops of the Pops gesendet zu werden, wobei das Management der Band Chrysalis davon überzeugte, die Kosten für die Produktion dann doch zu übernehmen.

„Vienna“ schaffte es auf Platz Drei der deutschen und Platz zwei der britischen Charts. Dort verhinderten erst „Imagine“ und „Woman“ des kurz zuvor ermordete John Lennon und anschließend Joe Dolces „Shaddap Your Face“ den Sprung auf Platz Eins. Dennoch sollte „Vienna“ die erfolgreichsten Single des Jahres 1981 werden. Zeitgleich waren Midge Ure und Billy Currie aber auch noch anderweitig präsent, da sich ihr Projekt Visage mit „Fade To Grey“ ebenfalls in den Spitzengruppen der europäischen Charts etablierte. Zu dieser Zeit veröffentlichte Island Records neuerlich die Single „Slow Motion“ mit „Hiroshima-Mon Amour“, „Dislocation“ und „Quiet Man“ als zusätzliche Tracks, um die Verkaufszahlen der ersten drei Alben nachträglich doch noch anzuheben. Immerhin erreichte die Single am 28. März 1981 Platz 33 der britischen Charts.

ALL STOOD STILL
 

„All Stood Still“ wurde am 26. Mai 1981 als vierte Single des Albums ausgekoppelt. Auf die Produktion eines weiteren Videos wird allerdings verzichtet. Stattdessen dient wie schon bei „Sleepwalk“ eine Live-Performance zur visuellen Präsentation. Bei der 7-Inch Singleversion handelt sich um eine gekürzte Albumversion. Beim Schreiben achtete Ultravox nicht darauf, ob die Länge eines Songs radiotauglich war. Erst nach Fertigstellung wurde geprüft, ob eine nachträgliche Editierung möglich ist, ohne dabei die Charakteristik des Songs nachhaltig zu verändern oder zu verfälschen. Die B-Seite wird mit „Alles Klar“ ein weiteres Instrumentalstück. Der Titel entstand dadurch, dass Planks Mitarbeiter seine Anweisungen immer mit „Alles Klar“ bestätigten, was für Ultravox alles andere als „klar“ war, da sie den Ausdruck anfangs nicht verstanden. „Alles Klar“ entwickelte sich rasch zum Running Gag und letztendlich auch zu einem würdigen Titel. Zum Song selbst bleibt anzumerken, dass das Atmen auf der Aufnahme echt ist und Warren nach Beendigung der fünfminütigen Aufnahme versuchte, weder ohnmächtig zu werden noch zu hyperventilieren. Die Maxi-Singe enthält neben der Albumversion von „All Stood Still“ und „Alles Klar“ mit „Keep Talking“ noch einen zusätzlichen Instrumentalsong. Dabei wurde dieser nie wirklich aufgenommen. Warren ließ bei den Proben immer eine Art Diktiergerät von Panasonic mit einem eingebauten Mikrofon mitlaufen, um die Ergebnisse von Jam-Sessions festhalten zu können. Eines dieser Ergebnisse ist „Keep Talking“, obwohl es zur Zeit der Entdeckung als potenzielle B-Seite noch keinen Titel hatte. Warren fand es früher selbst schon immer interessant, sich auch der B-Seiten der Singles zu widmen, die mitunter besseres Material als die eigentliche A-Seite hatten, aufgrund kommerzieller Aspekte jedoch auf die Rückseite verbannt wurden. Da sich Ultravox mittlerweile in der Position befand, diesen Weg ebenfalls zu bestreiten, wurden somit auf die Rückseiten der Singles Stücke gebracht, die aus Sicht der Band zwar nicht auf ein Album gehörten, aber es doch wert seien, veröffentlicht zu werden. Leider schlug bei diesem Stück im Studio von Conny Plank der Versuch fehl, die Stimmung und grundlegende Sounds der Probeaufnahme zu rekonstruieren. Doch da man es unbedingt verwenden wollte, ließ man sich Warrens Aufnahmegerät zuschicken, um in bestmöglicher Qualität die Übertragung der Probeaufnahme auf Mehrspurband vornehmen zu können. Zwar wurde das Ergebnis von Plank noch weitestgehend bereinigt und überarbeitet, doch letztendlich ist der Song auf der Platte keine 24-Spur-Aufnahme, sondern das Ergebnis der Jam-Session.

Passend dazu ist auch der Name entstanden, der noch immer nicht existierte, als Chrysalis zwecks Labeldruck und Pressung darauf drängte. Als während einer dieser Anrufe im Hintergrund jemand „Keep Talking … Keep Talking“ rief, war die Suche beendet. Somit ist der Titel nicht mehr als ein Zufall, wobei er aber nach Einschätzung der Band perfekter nicht sein könnte. Dass bei einigen Pressungen auf dem Label „Keep Torqe-ing“ statt „Keep Talking“ steht, ist ähnlich wie schon bei „Torque-Point“ einer Mischung aus bandinternem Humor und undeutlicher Beschriftung zuzuordnen. „New Europans“ wurde zwar auch als Single veröffentlich, allerdings nur in Japan aufgrund der Tatsache, dass der Song dort zur musikalischen Untermalung für eine Whisky-Werbung benutzt wurde. Dafür allerdings wurde der Song auch ausgezeichnet und hatte wesentlichen Anteil am Erfolg von Ultravox in Japan.
 

 
RAGE IN EDEN
 

Mit Beginn der Aufnahme von „Rage In Eden“ im Juni 1981 betrat Ultravox Neuland. Denn bei allen bisherigen Produktionen, auch schon während der Ära John Foxx, waren die aufzunehmenden Songs für ein Album zum Zeitpunkt, als das Studio aufgesucht wurde, bereits fertig und wurden mitunter zuvor auch schon live gespielt. So konnte kostbare Studiozeit auf ein Minimum reduziert werden. Der Erfolg von „Vienna“ als Album und Single in Verbindung mit den Einnahmen, die Billy und Midge durch Visage mit einbrachten, stand Ultravox plötzlich vor der luxuriösen Möglichkeit, neue Songs erst im Studio zu schreiben. So zog es sie ohne Songideen wieder nach Deutschland in das Studio von Conny Plank, um dort der experimentellen Kreativität freien Lauf zu lassen. Eine ziemliche mutige und drastische Vorgehensweise, um den legitimen Nachfolger von „Vienna“ zu schaffen. Vielleicht lag dieser Schritt zu neuen Ufern aber auch darin begründet, entgegen der Wunschvorstellung von Chrysalis eben nicht so klingen, wie ein zweites „Vienna“. Der Klang sollte mehr Tiefe haben und so zeitlos sein, dass es im Idealfall auch viele Jahre später noch Frische und Aktualität ausstrahlen würde. Mithilfe neuer Instrumente, wie den polyphonen Synthesizern CS-80 von Yamaha und dem OB-X von Oberheim, stellte man sich der Aufgabe, den legitimen Nachfolger von „Vienna“ zu schaffen. Mit dem Linn LM-1 Drumcomputer standen Warren Cann dabei neue Möglichkeiten in Sachen Rhythmik zur Verfügung. Er konnte sein eigenes Schlagzeug aufnehmen und somit digitalisierte Rhythmusmuster erzeugen, wie sie zum Beispiel in „The Thin Wall“ Verwendung faden. Der LM-1 sollte auch später auf der Bühne zum Einsatz kommen, um die Sounds des Albums auch live dem Publikum präsentieren zu können.


Ein typisches Merkmal von „Rage In Eden“ ist die experimentelle Gestaltung von Sounds, indem mit Nachhalleffekten und auch rückwärts laufenden Aufnahmen von Gitarren- und Gesangsparts gearbeitet wurde. Typisch hierfür der Refrain des Titelstücks „Rage In Eden“, in dem die Refrainzeile aus „I Remember (Death In The Afternoon)“ rückwärts abgespielt und mit Hall neu aufgenommen wurde. Um auch diesen Effekt später live verwenden zu können, waren Synthesizer mit Wavetable-Funktion notwendig, damit die entsprechenden Passagen während der Konzerte bei Bedarf abgerufen werden konnten.

 

 

THE THIN WALL

Noch während der Studioarbeit wurde am 10. August die Single „The Thin Wall“ mit der B-Seite „I Never Wanted To Begin“ veröffentlicht und schaffte es in Großbritannien auf Platz Vierzehn der Charts. Die düstere Grundstimmung vom fertigen Album ist von der Band durchaus beabsichtigt und laut deren Einschätzung das Ergebnis des dreimonatigen Entstehungsprozesses in einer eher ereignislosen Landschaft. Zwar entstand „Rage In Eden“ vom Prozess her auf andere Art als „Vienna“, doch waren es immer noch die gleichen Kreativkräfte einschließlich des Produzenten. Ultravox selbst war mit dem atmosphärischen Sound von „Rage In Eden“ sehr zufrieden, obwohl es ihrer eigenen Ansicht nach keine potenziellen Hits enthielt und hielt es selbst für das bisher beste Album der Band. Dem Wunsch der Plattenfirma, charttaugliche Songs wie Orchestral Manoeuvres In The Dark oder Soft Cell zu schreiben, wurde in diesem Sinne dabei eher nicht entsprochen. Wieder einmal wusste die Plattenfirma nichts mit Ultravox anzufangen. Dabei wollten Chrysalis kein Popalbum, aber zumindest etwas, was an „Vienna“ anknüpfte. Doch „Rage In Eden“ war anders. Es knüpfte zwar an „Vienna“ an, aber eher als Weiterentwicklung denn als Kopie. Es hatte eher etwas von einem Konzeptalbum, welches sich dem Hörer nicht sofort beim ersten Mal erschließt, wofür unter anderem auch Songs wie „Stranger Within“ verantwortlich sind. „The Voice“ mit den mystischen Chören wurde das erste Stück des Albums, auch um vom Titel her (“Die Stimme”) einen Bezug zum Bandnamen herzustellen und den Funken überspringen zu lassen. Dabei ist beim Ende der Extended Version von „The Voice“, welches später so auch live gespielt wurde, Neu! mit „e-music“ als der eigentliche Urheber dieses Parts nicht zu verleugnen und eine weitere Hommage an den Krautrock der späten Siebziger. „I Remember (Death In The Afternoon” ist ein Tribut an die Unglaublichkeit des Todes von Persönlichkeiten wie John Lennon oder aber Marilyn Monroe. Man hört davon in den Nachrichten, glaubt es aber nicht und lacht drüber, weil es eigentlich nicht sein kann. „Accent On Youth“, „The Ascent“ und „Your Name (Has Slipped My Mind Away)“ sind während der gleichen Arbeitsphase entstanden und sollen die Lebenszyklen eines Menschen mit den damit verbundenen Höhen und Tiefen darstellen. Ursprünglich waren es nur zwei Songs, doch das amerikanische Abrechnungssystem, welches sich an der Anzahl der Songs auf einem Album orientiert, ließ „The Ascent“ zu einem separaten Stück werden. Ein weiterer, elementarer Unterschied zum vorherigen Album ist die Tatsache, dass die Texte nur noch aus der Feder von Midge Ure mit Unterstützung von Chris Cross stammen. Das hängt damit zusammen, dass er seine eigenen Texte singen wollte, was ihm aufgrund der Umstände seines Einstiegs bei Ultravox mangels Alternativen zunächst noch nicht möglich war. Auch Warrens gesangliche Aktivität beschränkt sich als Folge dessen auf „Paths And Angles“ als die B-Seite von „The Voice“.


ERSTE SPANNUNGEN - THE VOICE

Ein extrem wichtiger Sachverhalt, der den Wiedererkennungswert und den charakteristischen Sound von Ultravox ausmacht, ist auch verantwortlich dafür, dass nicht immer alles so reibungslos verlief, wie es der Öffentlichkeit gegenüber vermittelt wurde. Musikalisch gesehen begegnen sich Midge und Billy in der Mitte zwischen klassischer Ausbildung und autodidaktisch erlerntem Pop. Das war auch der Grund dafür, dass sich Billy den Einstieg von Midge bei Ultravox anfangs nicht vorstellen konnte. Letztendlich klappte es, aber nach dem Einstiegserfolg mit „Vienna“ und zunächst bedächtiger Zurückhaltung individueller Ansichten, kamen mit der Zeit und gemeinsamer Arbeit mehr und mehr die individuellen Charakterzüge in Verbindung mit dem Wunsch, die eigenen Vorstellungen zu verwirklichen, zum Tragen. Und die Schwelle der eigenen Zurückhaltung begann sich bereits langsam zu senken. Dabei orientierte sich Chris eher in Richtung Midge und Warren in Billys Richtung. Ein kleines, aber noch wenig dramatisches Beispiel dafür war die Entstehung von „The Voice“ und „We Stand Alone“.

Die Grundidee brachten Midge und Chris ein. Doch waren es nur Ideen und keine fertigen Songs. Es lag an Billy, den Stücken die musikalische Raffinesse zu geben, dessen es eines klassisch ausgebildeten Musikers bedurfte, es aber dennoch wie Popmusik klingen sollte. Die Songs entstanden demnach nicht zwangsläufig aus kollektiver Zusammenarbeit, sondern auch unter dem Druck eines unterschwelligen Konkurrenzkampfes. Dabei waren sich beide Seiten nicht immer bewusst, wer denn eigentlich das musikalische Zepter schwingt und wer für die Entscheidung, was genommen und verworfen wird, verantwortlich Ultravox war. Denn letztendlich saßen am Ende alle im Studio zusammen, um die Songs nach Findung eines gemeinsamen Nenners aufzunehmen. Billy nutzte dabei die sich bietende Gelegenheit und schrieb in seinem eigenen Interesse die ausgiebigen Soloparts, während der er sich sowohl am Synthesizer als auch an der Violine austobte. Midge und Chis waren dafür auf einem anderen Gebiet tätig. So zeigten sie weiterhin gesteigertes Interesse an der Produktion eigener Videos. 

Auch zur visuellen Umsetzung von „The Thin Wall“ arbeiteten sie wieder mit Lexi Godfrey und Russell Mulcahy zusammen. Sie schufen dabei ein bedrückendes und surreal wirkendes Video zwischen Traum und Wirklichkeit, um mit Hilfe einer geschickten Kameraführung und perspektivischen Einstellungen das Gefühl von Hysterie und Paranoia zu vermitteln.Szenen, wie das sich mit Wasser füllende Auto, dem instabilen Boden mit Schachbrettmuster, der entgegen der Schwerkraft fließenden Flüssigkeit und den im Sand zur Hälfte eingegrabenen Schwimmern, bleiben dem Betrachter nachhaltig in Erinnerung. Die schnelle Überblendung von Großaufnahmen der einzelnen Bandmitglieder sollte später auch im Video „Cry“ von Godley & Creme Anwendung finden. Ebenfalls im Video findet sich das Thema des Covers wieder, als Midge durch die Arme, welche aus den Wänden in einen Gang hineinragen, aufgehalten wird. Nach diesem Video zog sich Mulcahy auch zurück, da er merkte, dass sein Mitwirken nicht länger benötigt wurde. So waren Midge und Chris neben Lexi Godfrey als Produzent für die künstlerische Umsetzung von „The Voice“ erstmals selbst zuständig. Und sie schufen ein weiteres Video, das der anspruchsvollen Musik der Band in nichts nachsteht. Aufgeteilt in unterschiedliche Kapitel, wird in jedem das entsprechende Schlagwort wie Radio, Presse, Fernsehen, Militär und Justiz eingeblendet, um dann in bewegten Bildern dem Bezug zwischen Macht, Autorität und Mitspracherecht des Volkes Nachdruck zu verleihen. Die Single wurde am 29. Oktober 1981 veröffentlicht und erreichte in den britischen Charts Platz 16. Die Fähigkeit der beiden auf diesem Gebiet sprach sich herum, was ihnen unter anderem auch Engagements für Bananarama bescherte.


PETER SAVILLE

Für das Coverdesign zeigte sich Peter Saville verantwortlich, der auch schon für Joy Division, OMD, Roxy Music oder aber New Order tätig war. Chris Cross stellte den Kontakt her, weil er fasziniert von dessen Arbeiten war. Und Saville hatte großes Interesse an einer Zusammenarbeit, weil für ihn die Verpackung so wichtig war wie dessen Inhalt. So stellte er gleich fest, dass das Cover von „Vienna“ große Ähnlichkeit zu Joy Divisions „Closer“ aufweist, für das er verantwortlich war. Sein Design für „Rage In Eden“ (Rage Face) lehnte an die Arbeit der Künstlers Claus Hausmann und Hervé Morvan an und so kam es, dass kurz nach Veröffentlichung Diskussionen wegen der Verletzung des Urheberrechts hinsichtlich Morvans Werk Cinémonde aufkamen. Die Frau des Künstlers entdeckte in Frankreich das Album und machte die Rechte ihres Mannes als geistiger Vater des Designs geltend. Die Plattenfirma reagierte und tauschte das Cover entsprechend aus. Spätere Alben hatten das perspektivische Bild mit den Fluchtlinien, die sich in dem Punkt treffen, an dem eine stilisierte Figur steht. Zusammen mit den anderen Elementen hatte es etwas von Salvatore Dali. Das Bild wurde dann auch als Cover für die Single „The Voice“ verwendet. Weiterhin entwickelte Saville das Ultravox-Logo mit den drei Pferden, welches im Video zum Song am Mikrofon auftaucht, in das Billy als Radiokommentator spricht.


QUARTET

Nach Beendigung der „Rage In Eden“- Tour richtete sich der Blick schon wieder in Richtung des nächsten Albums. Neue Songs existierten noch nicht, da aufgrund der Strapazen während der vergangenen Tour einfach die Konzentration dafür nicht vorhanden war. So überlegten sie sich eine Mischung aus den Vorgehensweisen zur Erstellung der beiden vorherigen Alben. Während „Vienna“ quasi schon vorhanden bzw. On Tour entstanden ist und „Rage In Eden“ komplett im Studio, wählte man für „Quartet“ einen Mittelweg, um beide Produktionsarten zu vereinen. Dabei wurden erstmals Instrumente mit digitaler Klangsynthese verwendet. Neben dem PPG Wave 2.2 mit Wavetables und Sequenzer, kam auch der E-MU Emulator, einer der ersten kommerziell erhältlichen Sampler, zum Einsatz. Von Yamaha wurde dem vorhandenem Equipment noch der GS1 zugeführt. Drei Monate setzten sie sich zusammen und probten ohne Zeitdruck und dem laufendem Gebührenzähler einer Studionutzung. Außerdem konnten sie sich so bereits im Vorfeld überlegen, was sie später im Studio ausprobieren und umsetzen können. Dabei mangelte es ihnen nicht an Ideen, doch an der Findung der jeweiligen gemeinsamen Nenner. Denn nach wie vor wurden alle Songs gemeinsam geschrieben. Und jeder hatte seine Vorstellung, wie etwas zu spielen war und wie etwas zu klingen hatte. Die Kunst bestand also darin, einen Kompromiss zu finden, mit dem sich jedes Bandmitglied arrangieren konnte. Hugh Fielder vom Sounds sollte es später in einem Interview präzisieren: „Es sind so unterschiedliche Personen, da ist es kaum zu glauben, dass sie überhaupt etwas verbindet.“ Entsprechend anstrengend war demnach die Findung der gemeinsamen Schnittmenge des Materials für acht Songs, mit dem es dann für vier Wochen in den Londoner Air Studios zur eigentlichen Aufnahme ging.

GEORGE MARTIN - Zeitgleich wurde auch über die Besetzung der Position des Produzenten nachgedacht. Zwar hatte die Band mit Conny Plank in der Vergangenheit gute Erfahrungen gemacht, doch blieben sie ihrer Linie treu, in der Stillstand auch Rückschritt bedeutet und neue Wege eingeschlagen werden sollten. Man war sich einig, dass das neue Album wesentlich härter werden sollte und überlegte, wie dieses erreicht werden könnte.

Als potenzielle Produzenten tauchten Namen wie Chris Hughes und Chris Thomas auf, welche schon Bands wie Adam Ant, Sex Pistols oder aber Roxy Music produzierten. Dann wurde der Name George Martin eingeworfen. Midge hatte während der Prince’s Trust Rock Gala 1982 bereits Kontakt zu ihm und alle hielten es für eine gute Idee, zumal er als Produzent der Beatles mit deren „St. Pepper“-Album bereits zur lebenden Legende geworden ist. Auch wenn sich keiner sicher war, was er in den letzten zehn Jahren eigentlich gemacht hatte. Tatsächlich hat er unter anderem mit Cheap Trick und UFO gearbeitet. Sie fragten ihn einfach und bekamen zunächst eine Absage. Vermutlich, weil er seinen Ohren obschon dieser Anfrage nicht traute. Dabei kannte er die Musik der Band, da er von seiner Tochter bereits auf eines ihrer Konzerte mitgenommen wurde. Er kannte „Vienna“, ihm gefiel die Musik und letztendlich gab er dem Drängen der Band nach. Die Presse interpretierte aus dieser Kombination zugleich, dass sich Ultravox jetzt völlig dem Kommerz verschreiben würde. Vielleicht nicht ganz unbegründet. Primär waren sie aber darauf aus, eine Symbiose aus der kommerziellen Erfahrung Martins und den eigenen experimentellen und innovativen Tendenzen zu schaffen. Wer, wenn nicht Ultravox, sollte einen derart ungewöhnlichen Schritt wagen.

Sie legten dabei aber auch großen Wert darauf, die eigenen künstlerischen Interessen zu wahren und einzubringen. Insgeheim setzte man durch die Zusammenarbeit mit Martin auch darauf, endlich in den Vereinigten Staaten den Durchbruch zu schaffen. Er arbeitete mit seinen Tontechnikern Geoff Emerick und Jon Jacobs zusammen, ohne dabei selbst an den Reglern tätig zu werden. Im Gegensatz zu Conny Plank, der sein Mischpult zwar in tüftlerischer Akribie selbst bediente, sich dabei aber auf den Klang der Songs konzentrierte, brachte sich Martin auch auf dem Gebiet der Harmonien und des Gesangs ein. So unterstützte er Midge dabei, sich gesanglich zu entwickeln und zu verbessern. Dabei ließ er ihn jeden Song mehrmals singen, um aus der unterschiedlichen Spuren die jeweils besten Segmente auszuwählen. Diese Vorgehensweise war Midge bis dahin unbekannt. Darauf war man aber auch vorbereitet und es war auch erwünscht, um aus dieser Merkwürdigkeit der Konstellation das Besondere zu ermitteln. Der eigentlichen Aufnahme folgte, als angenehmer Nebeneffekt, der Umzug auf die Karibikinsel Montserrat, wo in den dortigen Studios innerhalb der nächsten sieben Wochen das Abmischen und der Feinschliff erfolgte. Musikalisch nahm Martin insoweit Einfluss, als dass er eine Art leitende Funktion übernahm und unterstützend eingriff, der Band aber auch in der Entwicklung völlige Freiheit gestattete. Trotz der vielen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung, welche die Insel bot, war es erneut eine anstrengende Zeit. Dabei hätte Midge auf die unangenehme Begegnung mit einem Hai vermutlich gerne verzichtet.

Eine von Warrens Hauptbeschäftigungen war Schlafen. Er lag nicht gerne in der Sonne und nahm lieber Bräunungspillen, die ihn aber, laut Midges Einschätzung, eher wie eine Orange aussehen ließ. Ein Eklat kurz vor dem Abschluss der Arbeiten konnte gerade noch verhindert werden, als Warren nach Beendigung einer seiner letzten Schlafzyklen zu verstehen gab, dass er möglicherweise mit dem Drumsound nicht zufrieden sei. Einer kurzen Stille angesichts dieses Statements folgte die kollektive und lautstarke Darlegung, dass er dann auch vorher beim Vorgang des Abmischens hätte anwesend sein müssen. Denn eine Änderung des Drums hätte zur Folge gehabt, dass auch alles andere hätte überarbeitet werden müssen. So sei sein Vetorecht verwirkt und der Einspruch abgelehnt. Durch Martins Anteil und seinem musikalischen Hintergrund wurde „Quartet“ ein stark arrangiertes Album, welches sich deutlich von seinem Vorgänger unterscheidet. Diese Anforderung an das neue Album wurde im Vergleich mit „Rage In Eden“ also erfüllt. Und ganz am Ende steht „produziert von George Martin“ auf dem Album, was auf jeden Fall ein sehr wertvolles Gütesiegel war.



SELBSTEINSCHÄTZUNG

Ob der Grad der Zufriedenheit, welcher nach Fertigstellung in diversen Interviews seitens der Band kommuniziert wurde, auch der tatsächlichen Einschätzung entsprach, darf zumindest hinterfragt. „Er ist ein Gentlemen durch und durch. Immer freundlich und hilfsbereit“, so Midge Ure. „Kein Leuteschinder, wie man es sich bei einem Produzenten der alten Schule vorstellt.“ Ferner bezeichnete man die Zusammenarbeit als eine Mischung aus Vater und Schullehrer. Er habe weitergeholfen, wenn sie festsaßen und keine Einigung erzielen konnten. Dann fungierte er auch als eine Art Schiedsrichter, der bei den häufigen Meinungsverschiedenheiten als Außenstehender seine objektive Einschätzung abgab. Man bezeichnete die Ergebnisse als gut und mitunter auch als merkwürdig und kurios. Aber von wirklicher Euphorie sprach nach Beendigung der Produktion niemand. Insgeheim hatte man sich in der Summe vielleicht mehr von der Zusammenarbeit mit George Martin versprochen. Es war nicht die akustische Reise, die sie wir uns erhofft hatten, so Warren Cann später. Möglicherweise lag es an falschen Vorstellungen, unter denen diese Kooperation angegangen wurde. Trotzdem würde keiner von Ultravox diese Erfahrung gegen etwas anderes eintauschen wollen. Entsprechend diverser Ansichten und Einschätzungen der Sachlage waren auch die Lieblingstitel der Bandmitglieder unterschiedlich. Billy hatte in „When The Scream Subsides“ seinen Favoriten.

Mit „Serenade“ hingegen war er nicht so zufrieden, weil seine Vorstellung als geistiger Vater des Songs nicht umgesetzt wurde. Es geht ihm zu sehr in die Richtung von „Sleepwalk“ und „Passing Strangers“. Warren hingegen mochte „Serenade“, was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass er „Sleepwalk“ geschrieben hat. Außerdem zählt er „Visions In Blue“ zu seinen Lieblingen und stuft den Song dabei sogar stärker als „Vienna“ ein. „We Came To Dance“ hingegen hätte seiner Meinung nach besser sein können. Zusammen mit „Hymn“ und „Visions In Blue“ findet Chris ausgerechnet „We Came To Dance“ interessant, weil es sich von den anderen Songs unterscheidet. Midge bevorzugt “Visions In Blue” und “Hymn”. Insgesamt ist er mit einigen Sounds auf dem Album und der Art, wie Dinge gelaufen sind, aber nicht zufrieden. Doch aufgrund der Tatsache, dass er Teil einer Band ist, musste er sich, wie alle anderen auch, damit arrangieren. Aber es zeigt auch die Spannungen, die unter den Bandmitgliedern vorhanden waren, um am Ende mit „Quartet“ ein Album präsentieren zu können, das insgesamt gesehen zu einhundert Prozent Ultravox ist. Auch wenn jeder für sich einige Dinge anders gemacht hätte. Somit kann die Frage nach der Zufriedenheit nichtvollständig beantwortet werden, da jedes Bandmitglied diese vermutlich anders beantwortet hätte. Durch die Art, wie George Martin arbeitete und die Vorstellungen, die Ultravox hatte, mündete die gemeinsame Zeit irgendwie in einem musikalischen Zwischenraum.

 
 
REAP THE WILD WIND

Für das Design zeigte sich erneut Peter Saville verantwortlich. Auf der am 16. September 1982 vorab veröffentlichen Single „Reap The Wild Wind“ (Bibelvers aus Hosea 8, 7: „Den Sturm ernten“) sind Teile von Strukturelementen in Anlehnung an die altitalienische Baukunst abgebildet. Der rote Faden in Sachen Design setzt findet im Cover zum Album seine Auflösung, da dort die komplette Frontansicht des Bauwerks - wie später auch als Bühnendekoration - zu sehen ist. Dabei basiert der Schriftzug des Titels auf der Schriftart Perpetua Titling Light, die den klassischen Architekturansatz unterstützen soll. Das Album erschien auch als Picture Disc, wobei auf der transparenten Hülle sowohl Bandname und Albumtitel stehen und die Schallplatte selbst grünlich marmoriert und die entsprechende Symbolik ebenfalls vorzufinden ist. Der Bezeichnung des Bauwerk als Monument setzt sich immer mehr als Leitbegriff dieser Bandepoche durch. Dieses Monument taucht sich auch im Video zu „Reap The Wild Wind“ auf, als die Bandmitglieder am Beachy Head, Eastburne das Design vom Cover in der Wirklichkeit der Steilküste nachbauen. Das teuerste am Video, welches wieder in Eigenregie gedreht wurde, war dabei noch die Anmietung der Spitfire aus dem zweiten Weltkrieg, die im Elstree Flying Club, Berkshire über die Köpfe der Bandmitglieder hinwegfliegt. Midge Ure weist bei diesem Song ausdrücklich darauf hin, dass der Text eigentlich keine besondere Bedeutung hat. Der Betrachter soll die Bilder in Verbindung mit der Musik selbst zusammenfügen. Ansonsten sei dieses Video eher die freudige Verwirklichung der Phantasien von vier großen Kindern. Die Single mit der instrumentalen B-Seite „Hosanna (In Excelsis Deo)“ erreichte Platz 12 der britischen Charts. Mittlerweile ist es keine Überraschung, dass die Presse erneut bevorzugt negativ äußert. „Es scheint, als gäbe es kein Schwarz und kein Weiß. Entweder man mag Ultravox oder man mag sie nicht. „Reap The Wild Wind ist eine seichte Nachahmung von Kraftwerk“ oder „wie ein unglaubwürdiger Bowie-Schmierkäse“, so die britische Presse. Auch das Album selbst, welches am 15. Oktober 1982 veröffentlich wird, besteht den Test der musikalischen Fachpresse nur selten. Christopher Hill: „Das Problem ist George Martin’s klarer Sound, der keinen Platz für die notwendigen dunklen Nischen lässt, welche Ultravox aber benötigt.“

Noch heftiger äußert sich Roy Trakin im Creem: „Quartet versucht modisch und exotisch zu klingen, doch sind die Einflüsse dafür zu bodenständig und banal.“ Chris Cross hat seine eigene Meinung dazu und übte seinerseits Kritik: „Die englische Presse ist ganz generell ziemlich schlecht. Wenn die wüssten, wovon sie eigentlich reden, nähmen wir sie vielleicht ernst. Die europäische und amerikanische Presse ist wenigstens an unserer Musik interessiert. Die einheimische Presse hingegen nimmt zum größten Teil nur sich selbst wichtig.“ Warren Cann setzt noch einen drauf: „Die britische Presse hasst uns für unser Selbstvertrauen. Die Journalisten zu Hause konnten uns nie und zu keiner Zeit unserer Karriere leiden.“ Da können sie mit einer Spur Genugtuung vernehmen, dass sich das Album bereits am 23. Oktober 1982 auf Platz 6 der Albumcharts wiederfindet und sich dort auch über ein halbes Jahr halten soll. In den USA schaffte das Album mit Platz 61 die bisher höchste Platzierung. Wenn auch nicht so hoch, als das man es als Durchbruch in Amerika bezeichnen könnte. Auf dem europäischen Festland sind im Gegensatz zur britischen Presse zwar auch nicht alle Kritiken positiv, aber doch ausgewogener und nicht ganz so extrem. „Herrlich. Selten so eine kuschelweiche Stimme und so einen flaumigen Synthesizer gehört wie auf der neuen Ultravox- Single. Was Bass und Schlagzeug dagegen anstellen, erinnert mehr an ein kleines Erdbeben. Die Melodie allein ist schon nicht übel, aber seinen eigentlichen Reiz bezieht der Song aus dem scharfen Gegensatz von Rhythmus- und Melodieelementen. Tanzen oder nur fasziniert zuhören, beides ist möglich, denn der Fuchs aller Füchse, Beatles-Produzent George Martin, hat hier alles bis aufs I-Tüpfelchen ausgefeilt und – balanciert.“ So eine deutsche Kritik zu „Reap The Wild Wind“.

Die Süddeutsche Zeitung sah „Ultravox als führende Vertreter der elektronisch aufbereiteten Rockmusik.“ Frank Erdle ist weniger euphorisch: „Lohnt es sich, die Vorratsregale der Plattenläden im Sturm zu nehmen? Die Antwort lautet Jein. In der Tat kann ich an Quartet rein gar nichts aufregendes entdecken. Viele nette Melodien für das Autoradio. Auch George Martins Einfluss bleibt gering. Somit hat Midge Ure bewiesen, dass er eingängige Pop-Songs schreiben kann und seine Begleittruppe beweist, dass sie diese spielen kann.“ Da taucht unterschwellig wieder ein Problem in der Wahrnehmung auf, das mit dem Weggang von John Foxx eigentlich behoben sein sollte. Wieder wird der Sänger nicht als Bestandteil der Band, sondern auch als schöpferischer Kopf gesehen. Eine Tendenz, welche zumindest in der Öffentlichkeit von der Band regelmäßig dementiert wurde. Dave Thompson von Allmusic attestierte dem Album eine gewisse Bedeutungsschwere zwischen Nostalgie („Reap The Wild Wind“), Glauben („Hymn“) und Angst („When The Scream Subsides“, „Cut And Run“). In einer von Modeopfern und Oberflächlichkeit geprägten Bewegung pralle Ultravox an dem von ihnen selbst erschaffenen Frankenstein ab. Die Musikszene besitze am Beispiel von „Serenade“ und „We Came To Dance“ die erschreckende Eigenschaft, sowohl ekstatischer Hingabe als auch militärische Konformität freizusetzen. Andererseits bestünde durch einladende Rhythmen, wabernde Synthesizer und aufweckende Melodien auch die Möglichkeit, der Düsternis der behandelten Themen zu vergessen.

 
 
HYMN

Überhaupt lassen die Texte von Ultravox viel Spielraum für Interpretationen. Es liegt gewollt nicht in der Absicht von Midge Ure und Chris Cross als Verantwortliche für diesen Part, eindeutige Aussagen zu treffen. Im optimalen Fall erstellt sich der Hörer selbst durch Text und Musik in Verbindung mit den eigenen Erfahrungen die passenden Bilder. Wenn jemand bestimmte Situationen oder Emotionen mit einem Song von Ultravox in Verbindung bringt, haben sie ihr Ziel erreicht. Das galt auch für die zweite Single „Hymn“, die am 19. November 1982 erschien. Und auch hier war in Sachen Design wieder Peter Saville am Werk. Der Bezug zu den architektonischen Elementen der beiden vorherigen Veröffentlichungen wird durch die Verwendung von Freimauersymbolen, wie unter anderem Winkel, Zirkel, Sonne, Mond und einem angedeutetem Strahlenkranz, hergestellt. Das Video dazu beginnt mit den letzten Szenen von „Reap The Wild Wind“ und zeigt die vier Bandmitglieder in ihren jeweils erfolglosen Tätigkeiten, die erst nach der Unterzeichnung eines mittelalterlichen Vertrages in die Erfolgsspur geraten. Während in Verbindung mit dem Titel und dem Text anscheinend religiöse Aspekte behandelt werden, lässt es zusammen mit dem Video eher darauf schließen, dass vom Pakt mit dem Teufel die Rede ist, der zunächst zum Ruhm und dann zum Untergang führt. Eindrucksvoll wird dieser „Teufel“ durch den Schauspieler Oliver Tobias dargestellt, wobei die Entfernung der grünen, leuchtenden Kontaktlinsen nach Beendigung der Dreharbeiten größer Probleme machten, als die Arbeit selbst. „Hymn“ ereichte in Großbritannien Platz 11 und in Deutschland Platz 9. Oft wird Ultravox auch mit dem Thema Mode in Verbindung gebracht. Insbesondere, weil sich Ihr Outfit während „Vienna“ und „Rage im Eden“ am beginnenden zwanzigsten Jahrhundert orientierte. Mit Beginn der „Quartet“-Ära wurde bevorzugt dunklere Kleidung mit militärischem Einfluss gewählt. Anhand dessen will die Band auch deutlich machen, dass es ihr nicht um Mode geht. Wenn sich Ultravox modisch orientieren würde, bestünde die Gefahr, einer gerade aktuellen Epoche zugeteilt zu werden und in absehbarer Zeit wieder zu verschwinden, sobald auch die Mode der Vergangenheit angehörte. Der Band ginge es eher um Stil. Stil sei zeitlos und könne bei Bedarf das gesamte Konzept eines Albums ausmachen. So geschehen bei „Rage In Eden“ mit dem Gefühl der dreißiger Jahre und „Quartet“ mithilfe des Designs von Peter Saville. Mode kommt und geht, so Ultravox. Doch der Stil bleibt als prägendes Element erhalten.

 
 

LIVE

Mit der beginnenden Tour Ende 1982 wurde das konzeptionelle Design von „Quartet“ und Peter Saville fortgesetzt. Die Bühnenkonstruktion bildete dabei das Cover des Albums. Zunächst war angedacht, das Design des monumentalen Bauwerks aus Pappe nachzubilden. Doch entschied man sich für einen Holzbau, weshalb die Kosten entsprechend explodierten. Da jedoch bereits ein Punkt erreicht war, an dem ein Verzicht keinen Sinn mehr machte, wurde das Konzept trotz immenser Folgekosten für den Transport durchgezogen. Letztendlich setzte sich die Philosophie der Band durch, das Beste an Sound zu bieten, was möglich ist. Selbst wenn es eine Materialschlacht auf allen Ebenen wurde. Zusammen mit der grau angestrichenen Bühnendekoration, die sich der jeweiligen Beleuchtung anpasste, sollte eine Atmosphäre geschaffen werden, die dem Konzertbesucher und Fan ein besonderes Erlebnis bescherten. Lautsprecher und Scheinwerfer wurden dabei in das Bühnenbild integriert, um der mystischen Stimmung nachhaltig Ausdruck zu verleihen. Zusätzlich wurden die Instrumente entsprechend der Fassadenfarbe ebenfalls komplett Grau gestrichen. Dabei fiel ein Konzert in Deutschland der enormen Bühnengröße zum Opfer, weil die Höhenangaben des Veranstalters falsch waren und die Bühnendekoration nicht in die Halle passte. Eine weitere Problematik stellte der mittlerweile sehr voluminöse Bandsound dar, der live mit nur vier Musikern nicht mehr zu bewerkstelligen war. Also entschied man sich, die eigene Vorband zur gesanglichen und instrumentellen Unterstützung in das eigene Set einzubauen. Dabei handelte es sich um das Duo „The Messengers“ bestehend aus Colin King und Danny Mitchell. Und dennoch sah sich Ultravox immer noch dem Vorwurf ausgesetzt, die Songs nicht komplett live gespielt zu haben, was entsprechend heftig dementiert wurde. Höhepunkt der Tour waren sicher die vier Shows im Londoner Hammersmith Odeon, die auch aufgezeichnet wurden. Doch es wäre nicht Ultravox, wenn die Presse auch hier nichts zu nörgeln gehabt hätte und die Protagonisten

 
 

VISIONS IN BLUE & WE CAME TO DANCE

Die dritte Singleauskopplung „Visions In Blue“ erfolgte am 11.März 1983 mit der B-Seite „Break Your Back“ auf der Single und einer zusätzlichen Live-Aufnahme auf der Maxi-Single von „Reap The Wild Wind“ als Teil der im Dezember aufgezeichneten Shows. Dabei sorgte das zugehörige Video zu „Visions in Blue“ für einen kleinen Skandal im britischen Fernsehen. Aufgrund nackter Tatsachen wurde es zensiert und lediglich in einer gekürzten Version gezeigt. Einerseits wurde der entblößte Oberkörper einer jungen Frau gezeigt und zusätzlich im schnellen Mittelteil des Songs ein Tanzpaar, wobei der männliche Part auch von einer Frau dargestellt wird und dabei lediglich eine unverschlossene Jacke trägt. Das war zuviel der Freizügigkeit für die britische Moral. Ungeachtet dieser „Differenzen“ erreichte die Single am 26. März 1983 Platz 15 der britischen Single-Charts. Erwähnt sei noch, dass im Video bereits Einspielungen vorkommen, in denen Midge diesen Song live auf der Bühne singt. Ein erster öffentlicher Hinweis, dass es zur Aufzeichnung von Konzerten gekommen ist und für Gesprächsstoff unter den Fans sorgte. Fünf Wochen nach „Visions In Blue“ wurde als vierte und letzte Auskopplung am 18. April 1982 noch „We Came To Dance“ ausgekoppelt. Das Video dazu spielt in einem kommunistisch regierten Land Asiens, sendet anhand einer tragisch endenden Liebe unterschwellig die Botschaft von Unterdrückung und dem Drang nach Freiheit aus. Die Fahne, die zwischendurch von Midge in die Luft geworfen wird, deutet darauf hin, dass es sich um China handeln soll. Auch diese Single schaffte es, mehr als ein halbes Jahr nach Veröffentlichung des Albums, am 4. Juni 1983 auf Platz 18 der Charts. Somit waren alle vier Auskopplungen unter den Top 20. Hinsichtlich der Frage, ob es sich bei „Quartet“ demnach um ein kommerzielles Album handelt, dürften diese Zahlen die Antwort geben und sämtliche Kritiken am Charisma der Band abprallen. Ungeachtet der Frage, wie zufrieden Ultravox selbst mit dem Album war. Diverse Fernsehauftritte unterstrichen die allgegenwärtige Präsenz und den damit verbundenen Erfolg der Band. In Deutschland war einer der Höhepunkte ein Auftritt in der Dortmunder Westfalenhalle, welcher im Rahmen von Rockpop in Concert ebenfalls im Fernsehen übertragen wurde. Besonders „The Song (We Go)“ bleibt wegen Warrens Solo auf den synthetischen Drums in bleibender Erinnerung.

 
 

MONUMENT THE SOUNDTRACK

Um sich von den Strapazen eine Auszeit zu nehmen, nutzten einige der Bandmitglieder nach der Tour die Gelegenheit, durch diverse Projekte die angestauten Emotionen abzubauen. Denn es war auch anderen Leuten aus dem Einzugsbereich der Band, wie zum Beispiel Danny Mitchell, aufgefallen, dass die Spannungen untereinander zunahmen, und sich mit Warren und Billy auf der einen sowie Chris und Midge auf der anderen Seite zwei Lager gebildet hatten. Mitunter reisten sie sogar getrennt voneinander zum Veranstaltungsort des nächsten Konzertes. In Sachen Entspannung hatte dabei jeder seine eigene Methode, und bei Midge hieß diese immer noch Musik. Zusammen mit Mick Karn von Japan nahm er die Single „After A Fashion“ auf, um zusammen anschließend nach Ägypten zu reisen, um dort in Kairo das entsprechende Video zu drehen. Außerdem kam über Karn und seine Verbindung zu Japan der Kontakt zu David Sylvian zustande, für den er ein Video produzierte. In dieser Phase entstand auch „The Bloodied Sword“, eine Art Hörspiel, in Zusammenarbeit zwischen Midge und Chris, die für die Musik zuständig waren sowie Maxwell Langdown als Erzähler. Chris selbst bezeichnete das Ergebnis als Shakespeare mit musikalischer Untermalung. Warren hingegen arbeitete, wenn er nicht gerade mit seinem Motorrad unterwegs war, zusammen mit Hans Zimmer als Helden am Album „Spies“. Zwar konnte das Resultat in zwei Shows live im The London Planetarium gezeigt werden, doch reichte es nicht für einen Plattenvertrag. Um die Zeit für die Fans von Ultravox bis zum nächsten Album zu überbrücken, wurde im Oktober ein Teil der in London aufgezeichneten Show unter dem Titel „Monument - The Soundtrack“ als Video und Album veröffentlicht. Neben dem instrumentalen Intro „Monument“ beinhaltete es die Mitschnitte von „Reap The Wild Wind“, „The Voice“, „Vienna“, „Mine For Life“ sowie „Hymn“. „Visions In Blue“ war zur Überraschung der Fans aber nicht mit dabei, obwohl das entsprechende Video dahingehende Andeutungen gemacht hatte. Überhaupt handelte es sich bei „Monument“ nicht um ein reines Live-Video, weshalb der Zusatz „The Soundtrack“ zum Tragen kam. Denn der Bühnenshow wurden Sequenzen aus den entsprechenden Videos zugefügt, da die Band ein reines Live-Video als zu langweilig ansah und abwechslungsreicher gestalten wollte. Das war aber auch nicht ganz unproblematisch, weil die Videos vom Tempo her den Studioaufnahmen entsprachen. Live wurden die Songs aber etwas schneller gespielt, weshalb die Videos von der Geschwindigkeit angepasst werden mussten. Dabei hatte „Mine For Life“ als reiner Albumtitel dieser Auswahl überhaupt kein eigenes Video, weshalb es mit Szenen von „Passing Strangers“ unterlegt wurde. Legendär ist dabei sicher der Einstieg in diesen Song mit dem verzerrt quietschenden Sound, den Midge aus seiner Gitarre quält. Und natürlich das Drumsolo am Ende von „The Voice“. Trotz seiner limitierten Länge von gerade mal dreißig Minuten, konnte sich das Album mit Platz 9 in die Top Ten der britischen Albumcharts schieben und schaffte es in Deutschland sogar zum LP-Tip der Woche: „Es war schon immer ein unvergleichliches Ereignis, Ultravox in ihren Konzerten zu erleben. Wer es trotz allem bisher versäumt hat, dem sei dieses Album wärmstens empfohlen. Die absoluten Höhepunkte der letzten Europa-Tour werden jetzt im astreinen Sound live serviert. Ultravox live - eines der spektakulärsten Rockereignisse des Jahres.“ Und im Vereinigten Königreich? Chris Bohn kontert: „Jungs, Ihr habt Euch ein Mausoleum gebaut. Geht und legt Euch hinein.“

 
 
LAMENT
Derweil begann Midge nach seinem Soloprojekt damit, in seinem Haus in Chiswick ein Studio einzurichten und gründete mit Music Fest sein eigenes Label. Denn im der zweiten Jahreshälfte sollten die Arbeiten am vierten Studioalbum in dieser Besetzung beginnen. Und auch für dieses Vorhaben hatten sich Ultravox schon eine neue Strategie überlegt: Sie wollten es alleine machen. Man äußerte sich dahingehend, dass die Notwendigkeit eines fünften Bandmitgliedes, das sich in Sachen Strukturierung mit einbringt, nicht mehr gesehen wurde und ein Punkt erreicht war, an dem man selbst wusste, wohin der Weg führen sollte. Diese Entscheidung bietet natürlich auch viel Platz für Spekulationen. Möglicherweise wurde sie aus der Erkenntnis heraus getroffen, dass „Quartet“ zwar die kommerziellen Erwartungen erfüllte, aber nicht die eigenen. Vielleicht hatte es aber auch finanzielle Aspekte. Denn George Martin als Produzenten zu haben und das Album auf Montserrat abzumischen, war sicher nicht weniger kostspielig als die komplette „Monument-Tour“. Daher wurde die gesamte Bühnenkonstruktion nach dem letzten Konzert in Japan auch nicht wieder mit nach Hause genommen, sondern gleich vor Ort entsorgt. Vielleicht wurden diese Gründe aber auch intern als Vorwand genutzt, um im intimen Kreis die jeweils eigenen musikalischen Interessen in eine stärkere Position zu bringen. Denn einen Schiedsrichter, wie ihn George Martin mitunter abgegeben hatte, würde es dann nicht mehr geben und Differenzen müssten endgültig untereinander und ohne äußeren Einfluss ausgeräumt werden. Eine nicht unwichtige Betrachtungsweise auch unter dem Aspekt, dass nach wie vor alle finanziellen Erträge, welche die Band erzielte, zu gleichen Anteilen aufgeteilt wurden. Unabhängig davon, wie groß die eingebrachte Eigenleistung eines jeden in die Bandarbeit war. Das Auftreten als Kollektiv und die Auffassung, alle Fäden in musikalischer und wirtschaftlicher Hinsicht selbst in den eigenen Händen zu halten, mag hinsichtlich der Präsentierung des Produktes Ultravox verständlich sein. Es barg aber auch die Gefahr, sich untereinander zusätzliche Reibungspunkte zu schaffen. So ganz ohne fremde Hilfe kam man dann aber doch nicht aus, denn die neue Technik wollte auch bedient werden, ohne mit der Bedienungsanleitung in der Hand die Funktion eines jeden Reglers überprüfen zu müssen.

Also wurde Rik Walton als Toningenieur engagiert, und im Spätsommer 1983 konnte mit den Arbeiten am neuen Album begonnen werden. Grundsätzlich änderte sich nichts an der Arbeitsweise daran, wie die Songs von Ultravox entstanden. Jedes Bandmitglied warf Ideen ein, und sobald etwas Brauchbares abfiel, wurde diese Idee aufgegriffen und weiter verfeinert oder mit anderen Ideen kombiniert, um so einen neuen Song zu kreieren. Der Unterschied zu den bisherigen Alben lag jedoch darin, dass bei diesen immer erst alle Songs geschrieben wurden, um sie dann anschließend im Studio aufzunehmen. Aber aufgrund der Tatsache, dass Ultravox in Form von Midge Ure der Eigentümer des Studios war, bot sich eine andere Möglichkeit. Eine zu einem Song gereifte Idee konnte schon im Studio aufgenommen werden, obwohl noch längst nicht alle Titel des Albums fertig waren. So boten sich mehr Freiräume zur kreativen Entfaltung. Dabei entzog sich Ultravox auch nicht dem Fortschritt und nutzte die neue Midi- Technologie. Einige der älteren Instrumente wurden durch neue mit Midi-Funktion ersetzt und mit Gesangs-Samples programmiert. So wie dem Palm PPG Wave 2.2 oder aber dem Yamaha GS-1, welche unter anderem bei „Lament“ oder „White China“ zum Einsatz kamen. Zum Streichquartett bei „Heart Of The Country“ bestehend aus Amanda & Jacky Woods, Margaret Roseberry und Robert Woollard gesellte sich Billy Currie mit einer Violectra des amerikanischen Herstellers Barcus-Berry.


Zwischendurch gönnte man sich eine Pause, um der Mischung aus Anstrengung und Langeweile, die Studioaufenthalte zwangsläufig mit sich bringen, zu entkommen. Als ein Ventil, um angestaute Emotionen und Ärger anderweitig ablassen zu können. Dass das nicht immer gelang, lassen diverse Interviews nach Fertigstellung des Albums durchblicken. Der Grat zwischen konstruktiver Kritik und Schuldzuweisungen im kreativen Bereich wurde mitunter sehr schmal. Vielleicht schmaler, als es die Band vorher dachte.  Es kam vor, dass Diskussionen im Streit mündeten und der Zusammenhalt untereinander auf harte Proben gestellt wurde. Nicht unerheblich beteiligt an einer latent unterschwelligen Unzufriedenheit war die Presse. Die Gleichheit der jeweiligen Bandmitglieder untereinander wurde von den Fachzeitschriften nicht reflektiert.

Insbesondere Midge Ure wurde als Frontmann immer wieder als Kopf der Band und kreative Kraft bezeichnet. Folglich wurde bevorzugt auch Midge Ure auf den Titelblättern der Musikpresse abgelichtet und zu Interviews eingeladen, was insbesondere Billy ärgerte. Zwar kamen sie in Fachzeitschriften rund um ihre Spezialgebiete zu entsprechenden Ehren, doch was die Medien für die breite Öffentlichkeit anging, so mussten sie sich deren starren Konzepten fügen. Im Studio übernahm primär Midge Ure die Arbeit am Mischpult, um die Ergebnisse anschließend mit den anderen Bandmitgliedern im allgemeinen Interesse zu bearbeiten. Nach Einschätzung der Band selbst ist das Album im Sound stärker und aggressiver, da auch mehr mit Gitarre gearbeitet wurde. Eine musikalische Note der besonderen Art bekamen dabei „Man Of Two Worlds“ und „A Friend I CallDesire“. Die Texte zu den Songs wurden erst nach deren Fertigstellung verfasst. Während der Aufnahmen, in denen die Bausteine zu Songs zusammengefügt wurden, entstanden erste Emotionen, Gedanken, Empfindungen, welche sich in erste Bilder zu manifestieren. Nach Beendigung der grundlegenden Aufnahmen machten sich Midge und Chris im September 1983 in Richtung Schottland auf, um dort diese Bilder in Worte zu fassen. Dabei gab hauptsächlich Midge seine Ideen an Chris weiter, der eventuelle Korrekturen vornahm oder alternative Vorschläge machte. Ihre Reise führte sie auf die Inneren und Äußeren Hebriden, und sie trafen dort auf Mae McKenna, der Schwester von Schlagzeuger Ted McKenna, der unter anderem auch mit Rory Gallagher und The Michael Schenker Group arbeitete. Jedenfalls gefiel den beiden ihre „aufregende“ Stimme so gut, dass sie ins Studio eingeladen wurde und den gälischen Gesangspart bei „Man Of Two Worlds“ übernahm. Shirley Roden und Debbie Doss, ehemals Sängerin bei The Buggles und deren Hit „Video Killed The Radio Star“ (mit Warren Cann) zeigten sich für die Backup Vocals zu „A Friend I Call Desire“ verantwortlich.
 
 
ONE SMALL DAY

Die erste Single des Albums erschien am 26. Januar 1984 mit dem erneut instrumentalen Song „Easterly“ auf der Rückseite. Es war der erste Song, der fertig gestellt wurde, und Ultravox selbst zeigte sich mit ihm sehr zufrieden, da sie bereits beim Schreiben ein gutes Gefühl hatten. Vielleicht war es der für Ultravox eher unübliche Sound mit schweren Gitarren, so dass es lediglich für Platz 27 der britischen Singlecharts reichte. So wurde schon in den Raum gestellt, ob das die neue Stilrichtung von Ultravox wäre. „Es ist nicht die schlechteste Platte im Universum“, so der Record Mirror. „Aber sie ist auch nicht weit davon entfernt.“ Chris hatte seine eigene Meinung von den Rezensionen. Mittlerweile hegte er die Vermutung, dass Chris die neuen Platten überhaupt nicht mehr angehört werden würden und einfach die Kritik der vorherigen genommen wird. Darum interessierte er sich auch nicht mehr dafür. Plattitüden wie „kalt“ und „emotionslos“ oder „bombastisch“ und „pompös“ gehörten für ihn zum medialen Repertoire hinsichtlich Ultravox wie Milch zu Cornflakes. Entgegen der allgemeinen Tendenz, den Videos mittlerweile einen höheren Stellenwert als der Musik selbst einzuräumen, entschloss man sich für eine eher unkompliziertere Produktion. Sie wollten einfach nur sich selbst zeigen, allerdings nicht auf der Bühne. Midge und Chris entsannen sich der Callanish Standing Stones auf der Isle of Lewis, einer mehr als fünftausend Jahre alten Steinkreisformation, welche sie für einen geeigneten Drehort ansahen. Die Steine seien voller Symbolgehalt und mystischer Geheimnisse. Also entschlossen sie sich, das Video dort zu drehen. Allerdings kalkulierten sie nicht ein, dass es dort im Januar wesentlich kälter ist, als im spätsommerlichen September. Zwar passten sich die von der letzten Tour noch Grau angestrichenen Instrumente der kargen Landschaft inmitten des Steinkreises an, doch sorgten die Temperaturen deutlich unter dem Gefrierpunkt für körperliches Unbehagen. Und nach Beendigung der Dreharbeiten schaffte es nur die Band, vor dem einsetzenden Schnee rechtzeitig abzureisen. Die restliche Crew wurde zur Verlängerung des Aufenthaltes gezwungen.

DAS ALBUM

Erst drei Monate nach „One Small Day“ erschien am 19. April 1984 das Album „Lament“, was auf Deutsch so viel wie „Wehklage“ bedeutet. Doch der Titel solle dabei aber keineswegs Traurigkeit zum Ausdruck bringen, sondern vielmehr Emotionen. Schon früher hatte man als Albumtitel Worte mit nur zwei Silben und einem schweren Vokal am Anfang verwendet. Außerdem war aufgefallen, dass beim Vorspielen der Songs der gleichnamige Song den Hörern nachhaltig in Erinnerung blieb. Ein Sound sollte sich mit den eigenen Empfindungen verbinden und in Erinnerung bleiben. Und das schien bei „Lament“ funktioniert zu haben. Außerdem würde es einfach gut klingen. Insgesamt sah Ultravox im Sound mehr Härte und Aggressivität, da auch mehr mit der Gitarre gearbeitet wurde. Der Sound der Band sei dabei mehr als die Summe der Einzelteile und die Demokratie innerhalb der Band letztendlich der Schlüssel. Billy war froh, seiner experimentellen Ader wieder freien Lauf lassen zu dürfen, denn die Arbeit mit George Martin empfand er rückblickend als zu bieder an. Solchen Aussagen kann demnach schon entnommen werden, dass das Ergebnis, welches mit „Quartet“ erzielt wurde, nicht den eigenen Vorstellungen entsprach. Den Aufnahmen zu „Lament“ sprechen sie hingegen einen anderen Geist zu. Da ist von gesteigerter Spontaneität und mehr Gewalt im Sound die Rede und vom Verzicht auf schöngeistige Effekthascherei und weniger Manipulation durch Studioeffekte. Das Mischen des Albums selbst wurde in den Mayfair Studios in Zusammenarbeit mit John Hudson durchgeführt. Wie alle Alben seit „Vienna“ schaffte auch „Lament“ mit Platz 8 den Sprung in die britischen Top Ten. In Deutschland allerdings langte es nur zu Platz 25. Und auch der ewige Kampf mit der Presse ging in die nächste Runde. Im Stereoplay sprach Dorothea Wessel davon, dass Ultravox als einstmalige Speerspitze zukunftsorientierter Rockmusik mittlerweile von Dutzender anderer Bands überholt worden sei und damit begonnen hätte, sich selbst zu kopieren. Dabei hätte die Band durchaus das Potenzial zu mehr. Und wieder war vom bekannten „englischen Kathedralensound“ die Rede und viele der anderen Floskeln, die Chris Cross bereits nach „One Small Day“ und vor Veröffentlichung des Albums angesprochen hatte. Dem wiederum entgegnet Eleanore Levy: „Ultravox machen keine tiefdenkende Musik.


Sie sind nicht angesagt und nicht modisch und sie versuchen nicht, die Welt zu ändern. Aber sie machen elegante Musik mit Humor und Stil. Was kann man mehr verlangen?“ Und Dave Thompson von Allmusic bescheinigte der Band: „.. ein perfektes musikalisches Vermächtnis, verschwenderisch in musikalischer und trostlos in thematischer Hinsicht“. Der düstere Gemütszustand äußere sich sowohl menschlich in schläfriger Melancholie und emotionalem Schmerz („Lament“, „One Small Day“, „A Friend I Call Desire“) als auch in Form politisch gefärbter Texte, die die globalen Gefahren der modernen Welt heraufbeschwören („White China“, „Heart of the Country“, „Dancing with Tears in My Eyes“). Bei aller Kritik sprechen die Verkaufszahlen eine deutliche und vor allem eindeutige Sprache. Demnach gehörte Ultravox neben Bands wie Depeche Mode oder The Cure zu den erfolgreichsten Bands der sogenannten New- Wave-Ära, weshalb sie der jahrelangen Aversion durch die Presse durchaus entspannt mit einer Spur der Genugtuung entgegnen könnten. Außerdem hatten sich Midge Ure und Chris Cross soweit in Szene setzen können, dass sie auch für andere Projekte gebucht wurden. So schrieben sie mit „Rivets“ die Musik für einen Werbespot von Levi’s und außerdem den Soundtrack zum Pilotfilm von Max Headroom.

Das Design wurde erneut in Zusammenarbeit mit Peter Saville entworfen. Dabei hatten Midge Ure und Chris Cross anfangs die Vorstellung, dass Album komplett schwarz sein sollte ohne einen Hinweis darauf, von wem das Album sei. Aber Bandmanager Chris Morrison sprach sich aus praktischen Gründen dagegen aus, weil es dem Käufer nur schwer vermittelbar sein würde. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Spinal Tap diesen Gedanken wenige Monate später aufgriff und ihr Album „This Is Spiral“ mit diesem schlichten Design veröffentlichte. Der endgültige Entwurf von „Lament“ hatte eine mattschwarze Oberfläche mit kleinen, im Raster angeordneten schwarzglänzenden Quadraten. Diese waren erst sichtbar, wenn die Oberfläche aus einem bestimmten Winkel betrachtet wurde. Oben rechts befand sich ein Bild der Callanish Standing Stones, die auch ein wenig den roten Faden bildeten, da sie bereits im Video zu „One Small Day“ als Kulisse dienten. Midge hegte den Wunsch, dadurch eine Verbindung zu seiner schottischen Heimat herzustellen, was hinsichtlich der mystisch anmutenden Klänge von „Lament“ oder auch „Man of Two Worlds“ gerechtfertigt war. Bands wie die Simple Minds oder aber Big Country hatten diesen Weg auch mit großem Erfolgt eingeschlagen. Die erste Auflage des Albums war allerdings auf zehntausend Stück limitiert, da der Druck des Covers kostspielig war. Der Charterfolg des Longplayers erforderte aber Nachschub, nachdem die Erstauflage schnell vergriffen war. Die Nachfolgeserie war qualitativ anspruchsvoll und entsprechend kostengünstiger. Dabei begab sich Ultravox mit „Lament“ textlich zumindest teilweise auf neues Terrain. Das mystische „Man Of Two Worlds“ lässt durchaus religiöse Tendenzen erahnen und „White China“ mutet politisch an hinsichtlich der damals nicht mehr in weiter Ferne liegenden Rückgabe Hongkongs an China. Dass „Dancing With Tears In My Eyes“ nur kurze Zeit später den Nerv der Menschheit in Bezug auf die Angst einer nuklearen Katastrophe treffen würde, konnte damals niemand ahnen.

 
 
DANCING WITH TEARS IN MY EYES

Dabei wäre der Song, wenn es nach Ansicht der Band gegangen wäre, überhaupt nicht als Single erschienen. Aufgebaut auf Billy Curries Melodie und Akkordstruktur, wurde er als zu poppig eingestuft und man war sich einig, dass es ein sehr guter Albumsong sein würde. Eher waren sie darauf aus, „White China“ zu veröffentlichen, da es sowohl musikalisch als auch inhaltlich als innovativer und visionärer angesehen wurde. Es gab in Musikzeitschriften sogar schon vereinzelte Anzeigen, dass die Single in Kürze veröffentlicht werden würde. Doch Chrysalis war sich sicher, dass „Dancing With Tears In My Eyes“ die perfekte Auskopplung war und man zugunsten von „White China“ Gefahr laufen würde, auf einen potenziellen Hit zu verzichten. So kam es in einem finalen Showdown zur telefonischen Intervention zwischen dem Label und Chris Morrison an einem Ende der Leitung und Midge und Ultravox am anderen Ende. Schließlich beugte sich die Band dem Druck der Plattenfirma. Vielleicht auch deshalb, weil „One Small Day“ wenig erfolgreich war, und die Verantwortung aus Angst vor einem weiteren Flop somit in den Zuständigkeitsbereich der Plattenfirma transferiert worden wäre. Doch anders als es noch bei „Vienna“ der Fall war, sollte in diesem Fall Chrysalis recht behalten. „Dancing With Tears In My Eyes“ (mit der B-Seite “Building” und einer zehnminütigen Version auf der Maxi-Single) erschien am 04. Mai 1984 und wurde mit Platz 3 der zweitgrößte Hit von Ultravox in Großbritannien und mit Platz 7 der erfolgreichste in Deutschland. Die Kunde, dass der Song in die Charts geschossen war, erreichte die Band, während sie in England tourten. Irgendwie endete die Freude darüber damit, dass sich Billy plötzlich inhaftiert wiederfand. Der fehlenden Vorstellung, warum jemand mit Tränen in den Augen tanzen sollte, leistete das entsprechende Video Abhilfe. Auf bedrückende Art wird anhand eines Paares gezeigt, wie die letzten Minuten des Lebens verbracht werden können, wenn der Tod - wie in diesem Fall durch eine nukleare Katastrophe in einem Atomkraftwerk - unausweichlich bevorsteht. Die Außenaufnahmen zu Beginn wurden in Battersea in der High Street gedreht und die Innenaufnahmen in den dortigen Westbridge Studios. Dabei ist das Video

so geschnitten, dass die Explosion mit Beginn des Gitarrensolos erfolgt. Die folgende Schlussszene, die das Abspielen eines Heimvideos im Super 8-Format zeigt, wurde in Midges Garten in Chiswick aufgenommen. Das Kind ist der Neffe von Produzent Lexi Godfry. Seitdem gehört das Video zu den bekanntesten Werken der Achtziger Jahre und wurde zu einem Meilenstein in Sachen visueller Umsetzung.
 
LAMENT UND HEART OF THE COUNTRY

Mit „One Small Day“ und „Dancing With Tears In My Eyes“ waren die beiden ersten Auskopplungen des Albums sehr schnelle Stücke mit harten Gitarrensounds. Darum entschied man sich mit „Lament“ als dritte Auskopplung für ein eher ruhiges und besinnliches Stück, um der Öffentlichkeit auch die andere Seite des Albums zu präsentieren. Am 21. Juni 1984 wurde es veröffentlicht und platzierte sich mit Platz 22 immerhin fünf Plätze besser als „One Small Day“. Das Video dazu wurde in der Umgebung von Elgol im Süden der Hebrideninsel Isle of Skye aufgenommen. Am Tag der Anreise schien die Sonne, und am ersten Drehtag regnete es in Strömen. Nicht umsonst redet man in Schottland auch nicht von schlechtem Wetter, sondern von der falschen Kleidung. Inhaltlich ist es eine Liebesgeschichte, in der die vier Bandmitglieder sich als Urlauber in jeweils eine einheimische Frau verlieben und, bis auf Midge, sich von ihnen am Ende wieder trennen müssen. Zugegeben etwas unglaubwürdig, doch wie sonst kann eine solche Geschichte in vier Minuten Video gepackt werden. Jedenfalls passt die Story wunderschön zur Musik und die verregnete Landschaft in leicht verwischten Bildern trägt ihren Teil dazu bei, die Stimmung entsprechend zu transportieren. Die vier weiblichen Darsteller durften sich die Jungs von Ultravox zuvor bei einer Modelagentur aussuchen. Eine davon hieß Annabel Giles und sollte später Midges erste Frau werden. Channel Four begleitete die Band dabei während bei den Dreharbeiten im Rahmen einer Dokumentation für das britische Fernsehen. „Heart Of The Country“ erschien nur in Deutschland und Frankreich. Das Coverdesign ist bis auf den Namen identisch mit dem der Single „Lament“. In den Charts konnte sich die Single nicht platzieren. Eigentlich war auch geplant, nach einer kurzen Pause von zwei bis drei Wochen in die Staaten zu fliegen, um dort die Tour fortzusetzen. Doch die Niederlassung von Chysalis in New York zeigte wenig Interesse und Engagement, eine britische Band, die in den USA maximal Kultstatus genießt, zu unterstützen. Nach Abwägung von Nutzen und Kosten wurde auf den Trip über den Atlantik verzichtet, was sich wie ein bedrohlicher Schatten über der Mentalität der Band ausbreitete. Die Verärgerung und Enttäuschung darüber saß tief, was sich noch dadurch steigerte, dass andere britische Bands, die in Ultravox ihre musikalischen Wurzeln sahen, in den USA erfolgreich waren. Und das mit wesentlich anspruchsloserer Musik.

Es war offensichtlich, dass Chrysalis in Amerika das Zentrum des Übels war, es aber keinen Weg aus diesem Dilemma gab. Ultravox fühlte sich der Möglichkeiten beraubt, neben der eigenen Selbstverwirklichung auf musikalischer Ebene, auch den entsprechenden materiellen Wert zu erhalten. Denn nur ein einziger Erfolg in den USA würde finanziell schwerer wiegen, als mehrere in Europa. Zwar nahm man diverse Spitzenpositionen in einigen europäischen oder auch anderen Ländern rund um den Globus wohlwollend zu Kenntnis; doch das Fehlen des ganz großen Coups lastete auf der Seele von Ultravox. Es frustrierte sie. Um der eigenen Verärgerung zu entgegnen, tourte man alternativ durch Italien und anschließend ein halbes Jahr Pause zu machen. Auch, um über die Zukunft der Band nachzudenken und zu überlegen, ob und wenn ja, wie weitergemacht werden könnte. Die Pause dauerte aber länger als geplant.

 
 
THE COLLECTION

Vor der Veröffentlichung des ersten „Greatest Hits“ Album von Ultravox startete Chysalis eine Umfrage. Tausend Leute sollten Auskunft darüber geben, woran sie bei Ultravox denken. Das dadurch entstandene Bild zeigte, dass die Band als komplett humorlos und egozentrisch angesehen wurde. Dabei entsprach diese Einschätzung dem externen Erscheinungsbild, aber nicht der bandinternen Wahrheit. Insbesondere Midge Ure machte sich darüber Gedanken und wollte durch das Video zu „Love’s Great Adventure“ eine andere Sichtweise erzeugen. Das dazu in Kenia gedrehte Video ist in Anlehnung an die Abenteuer von „Indiana Jones“ eine Parodie voller selbstironischer Züge. Zusätzlich wurde diese Szene mit der Pause eingebaut, in der Midge um eine kurze Auszeit bittet, damit er nach der ganzen Rennerei wieder zu Atem zu kommen kann. Dabei wird der weibliche Part erneut von Annabel Giles gespielt, wobei Midge auf seiner Suche nach ihr nicht selbst mit dem Drachenflieger durch die Luft schwebt. Ursprünglich sollte die Idee zu „Love’s Great Adventure“ zu Werbezecken verwendet werden. Doch entwickelte Ultravox daraus einen neuen Track, der bereits gegen Ende der Set Movements-Tour live gespielt wurde. Zusätzlich erschien der Track mit einer Live-Version von „White China“ und einer Instrumentalversion von „Man Of Two Worlds“ als B-Seite am 12. Oktober 1984 als Single und erreichte Platz 12 in Großbritannien.

Ultravox war die erste Band, die einen brandneuen Song auf einem Greatest Hits-Album veröffentlichte und erwies sich damit wieder mal als Trendsetter, da diese Vorgehensweise in der Folge von vielen anderen Bands nachgeahmt wurde. Positiver Nebeneffekt war, dass die Verkaufszahlen somit in die Millionen gingen und „The Collection“ nach Veröffentlichung im November 1984 auf Platz 2 in die britischen Charts schoss. So war das Album noch erfolgreicher als „Vienna“. Zeitgleich erschien das entsprechende Video mit allen Singles, welches unter anderem auch die unzensierte Version von „Visions In Blue“ enthielt. Allerdings fehlten darauf „Sleepwalk“ und „All Stood Still“, da zu diesen Auskopplungen keine Videos gedreht wurden. „The Collection“ wurde als Anlass genommen, sich eine Auszeit zu gönnen. In fünf Jahren veröffentlichte man (mit „Monument“ und „The Collection“) sechs Alben und gab dabei weltweit vierhundert Konzerte in achtzehn Ländern.

Dazu kamen die Produktion von vierzehn Videos sowie diverse Aktivitäten außerhalb der Band wie Visage oder diversen Soloprojekten. Die Zeit für eine Pause war reif, denn schon während der Aufnahmen zu „Lament“ zeichneten sich wachsende Spannungen untereinander ab. Häufig wurde alleine gearbeitet, statt wie bei den vorherigen Alben, im Kollektiv, und nicht selten kam es dabei zu Meinungsverschiedenheiten. Darunter litt die Motivation und der emotionale Verschleiß leitete diese Unterbrechung ein. Während der Pause hatte Chris bei „White Rabbit“ von Jefferson Airplane seine Finger im Spiel. Billy und Midge machten derweil musikalisch weiter und begannen mit den Arbeiten an ihren jeweils ersten Soloalben. Doch wurde Midge dabei unterbrochen, als Bob Geldof zur Hilfe für Afrika aufrief und Band Aid ins Leben gerufen wurde. Das hatte zumindest zur Folge, dass die Bandpause von Ultravox zugunsten des Live Aid-Konzertes im Sommer 1985 unterbrochen wurde. Der Auftritt barg aber auch einige Risiken, da seit der letzten Zusammenkunft viel Zeit vergangen war und der letzte gemeinsame Auftritt somit mehrere Monate in der Vergangenheit lag. Das Set mit den vier Songs „Reap The Wild Wind“, „One Small Day“, „Vienna“ und „Dancing With Tears In My Eyes“ hätte mit dem gerade mal fünfzehnminütigen Soundscheck und der aufwendigen Instrumentierung durchaus in einem technischen Desaster enden können. Legendär ist dabei die Geschichte, dass Warren den Auftritt fast verschlafen hätte und er vehement von seinen Kollegen geweckt werden musste. Vielleicht aber auch deshalb, weil der Auftritt von der Running Order her eigentlich früher hätte stattfinden sollen. Doch mit der Begründung, dass es technische Probleme bei Adam Ant gäbe, kam Ultravox erst später auf die Bühne. Das sollte sich später aber als Vorwand herausstellen, damit Bob Geldof mit den Boomtown Rats während der Anwesenheit von Prinz Charles und Lady Di auftreten konnte. Nur ein Puzzle von vielen Ereignissen, an denen Midge als Mitbegründer von Band Aid und Autor von „Do They Know It’s Christmas“ lange zu knabbern hatte. Und zu allem Überfluss hielt Freddie Mercury von Queen den guten Midge nach dessen Auftritt mit Ultravox dann noch mit dem netten Jungen von den Boomtown Rats und ließ dabei seine Hand nicht mehr los, während Francis Rossi und Rick Parfitt von Status Quo ihr Lachen aufgrund dieser obskuren Situation nicht mehr verbergen konnten. Welche Tragweite der Auftritt von Ultravox hatte, sollte sich erst später herausstellen. Auffallend war jedoch, dass schon während der Aufnahme zu „Do The Know It’s Christmas“ von Ultravox neben Midge lediglich Chris mit im Studio dabei war, was aber nichts damit zu tun hatte, dass zumindest Billy nicht mitwirken wollte.

 

U-VOX

Midge hatte mit seinem sozialen Engagement rund um Band Aid so viele Termine, dass er mit seinem Soloprojekt „The Gift“ einschließlich der Tour Ende 1985 in Terminnot geriet und die Aktivitäten hinsichtlich des neuen Albums von Ultravox verschoben werden mussten. So kam es, dass sich zunächst nur Warren, Chris und Billy in dessen neu eingerichtetem Heimstudio trafen, um Ideen für das neue Album zu sammeln. Allerdings gestaltete sich die Anwendung der neuen Technik - wie schon bei der Produktion vom „Lament“ - als sehr langwierig und anstrengend. So reduzierten sich die musikalischen Aktivitäten zunächst auf ein Minimum, während primär daran gearbeitet wurde, die Sounds so durch die Anlage zu leiten, dass überhaupt etwas ankam und aufgenommen werden konnte. Vor Weihnachten trennte man sich wieder. Chris besuchte neben Russland die Alpen und Griechenland. Weihnachten verbrachte er absichtlich dort, wo „keine Christen“ heimisch waren. Im Januar 1986 traf man sich erneut, um mit der Arbeit auf musikalischer Ebene zu beginnen. Zwar waren noch immer nicht sämtliche Probleme technischer Art beseitigt, doch zumindest war jetzt ein Techniker mit an Bord. Midge war allerdings noch nicht mit dabei, so dass Chris, Billy und Warren zunächst auf sich alleine gestellt waren. Doch statt einfach loszulegen und wie bisher die Ideen fließen zu lassen und nachher zusammenzufügen, machte man sich Gedanken über die bevorstehende Reise und wo diese hinführen sollte. Einig wurden sie sich dahingehend, dass im Vergleich zu den letzten Arbeiten neue Wege begangen werden sollten.

Etwas Radikales und Neues sollte entstehen. Alle stimmten zu und insbesondere Warren legte dabei zunächst neue Energien an den Tag. Auch wenn die Arbeit mit ihm hinsichtlich seiner Einstellung zur Arbeitszeit alles andere als einfach war. Denn wenn er aufstand, packte Chris bereits schon ein. Einmal war Warren so extrem spät, dass es zu keiner zeitlichen Überschneidung hinsichtlich gemeinsamer Anwesenheit kam. Auch Chris blieb stur und bestand darauf, dass er eben auch seine Zeit hätte, in der er bevorzugt arbeiten würde. Warren sah es daher als vergeudete Zeit an, wenn auch Billy um acht Uhr ging, obwohl der Techniker noch da war. So nahm er Demos auf und spielte sie den anderen vor. Gemeinsam machten sie daraus neue Demos. Als Midge dann endlich hinzu kam, gefielen ihm die meisten Sachen aber nicht. Das sei nicht Ultravox. Alles wäre zu chaotisch und die Keyboards klängen mitunter zu bieder und altmodisch. Man arbeitete in folgenden Proben an den Songs, um „live“ an den Ideen zu feilen. Aber es kristallisierten sich immer größere Differenzen heraus. So verstand Warren nicht, warum Chris und Billy plötzlich auf Midges Seite standen und die Qualität der zuvor erarbeiteten Demos anzweifelten, obwohl sie ihnen doch vorher offenbar gefallen hatten. Er vermutete, dass die Demos den beiden schon die ganze Zeit über nicht zusagten, sie es ihm aber nicht sagten, und erst nach Midges Rückkehr mit der Wahrheit rausrückten. Er habe demnach unwissentlich unter „falschen Voraussetzungen“ gearbeitet und dieser Sachverhalt sollte sich nachhaltig zu seinen Ungunsten entwickeln. Midge wollte zurück zu den Wurzeln von „Vienna“. Zurück zum Wesentlichen; auch in Sachen Instrumentierung. Für Chris den Bass und ein Keyboard, für Billy drei Keyboards und seine Geige, für Warren Drums und einen Drumcomuter und er selbst Gitarre und ein Keyboard.

Midge wollte bevorzugt echte Drums als belebendes und menschliches Element. Doch Warren programmierte sehr zeitintensiv an mehreren Drumcomputern und vernachlässigte dabei seit geraumer Zeit sein reales Drumset. In einer Band, in der alle Mitglieder finanziell gleichgestellt und gleiches Stimmrecht hatten, Kompromisse aber für immer breitere Gräben sorgten und in individueller Unzufriedenheit mündeten, musste es zwangsläufig zum großen Knall kommen. Und es wurde entschieden, dass Warren gehen musste. Er wurde als der Faktor angesehen, der den Prozess der Entwicklung stört oder gar aufhält. Midge, Chris und Billy hatten sich dahingehend besprochen, und in erster Linie war es Midge als Wortführer, der Warren vor vollendete Tatsachen stellte. Ihm wurden dabei auch keine Alternativen angeboten. Keine Denkpause, um sich mit den Gedanken der anderen vertraut zu machen und sich gegebenenfalls in eine andere Richtung zu bewegen. Ihre Entscheidung war endgültig, was Warren wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel traf. Für ihn war die gemeinsame Arbeit, trotz aller Unterschiede, der Schlüssel zum musikalischen Erfolg. Er sah nicht kommen, dass die Unterschiede so groß waren, dass er zum Gehen aufgefordert wurde. Ob tatsächlich kein Handlungsspielraum mehr bestand, können nur Midge, Billy und Chris selbst beantworten. Jedenfalls sollten sie in nicht allzu ferner Zukunft realisieren, dass ihre Entscheidung nicht nur menschlich gesehen falsch war, aber mit jeweils unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich möglicher Alternativen. Ultravox setzte die Arbeit als Trio fort, musste aber aus der Situation heraus Gastmusiker engagieren. Mark Brzezicki von Big Country übernahm den Part, die Studiodrums einzuspielen. Dabei sollte er Warren keinesfalls ersetzen, sondern den Prozess der Entwicklung vorantreiben. Als festes Bandmitglied konnte Mark allerdings nicht betrachtet werden, da es seine Zugehörigkeit zu Big Country nicht zuließ. Ultravox nahmen wieder Kontakt zu Conny Plank auf, hatten aber kein Interesse nach Deutschland zu reisen. Conny Plank hingegen arbeitete am liebsten mit seinem eigenen Mischpult. Der Kompromiss sah vor, dass die Aufnahmen in Billys Hot Food Studios, in Midges Studio und bei Conny Plank in Deutschland stattfanden. Abgemischt wurde wieder in Montserrat, wobei Conny Plank es hasste. Er kam mit dem dortigen Mischpult des Herstellers Solid State Logic nicht zurecht und entsprechend unzufrieden war man mit dem Endergebnis. Nach der Rückkehr wurden die Aufnahmen in den Londoner Mayfair Studios von John Hudson und Rik Walton erneut gemischt.

 
SAME OLD STORY

Die erste Single „Same Old Story“ erschien am 26. September 1986. Ungewohnt dabei der Einsatz von Blasinstrumenten, deren Einspielung von Beggar & Co Horns übernommen wurde. Für die Backing Vocals zeigte sich Carol Kenyon verantwortlich. Bereits einen Tag nach Veröffentlichung erreichte der Song mit Platz 31 die höchste Chartposition in Großbritannien. Das Video ist eher schlicht gehalten. In Anlehnung an „One Small Day“ zeigte sich die Band selbst, allerdings im Dunkel eines (vermutlich beheizten) Studios. Mark Brzezicki wird darin aber bereits von Pat Ahern ersetzt, der auch auf der folgenden Tour die Trommelstöcke schwingen sollte. Viele der langjährigen Fans waren, wie schon bei der letzten Umbesetzung der Band, unsicher, wie sie die neue Ausrichtung der Band einordnen sollten. Eher zurückhaltend und mit einer gehörigen Prise Skepsis sahen sie der Veröffentlichung des Albums entgegen. Für das Design zeigte sich mal nicht Peter Saville, sondern die Firma des britischen Grafikdesigner Michael Nash verantwortlich. Das Cover besteht aus dem Schriftzug „U-Vox“, welcher durch Querlinien unterbrochen ist. Das Besondere ist die transparente Plastikhülle, auf der die entgengesetzten Streifen sind und somit das Cover komplett verschwindet. Erst, wenn die Single herausgezogen wird, ist das komplette Cover sichtbar. Das gleiche Design wurde auch beim Album benutzt. Allerdings mit eher aufdringlicheren Farben.

 

DAS ALBUM

„U-Vox“ erschien im Oktober 1986 und wurde der Öffentlichkeit als melodisches und gitarrenorientiertes Rock- und Popalbum präsentiert. Dabei sollte der Pfad der phantasievollen Sounds verlassen werden. Elektronische und akustische Gitarren stehen im Vordergrund, derweil der Anteil von Keyboards minimiert wurde. Auch politisch wurde man mit den Texten zu „All Fall Down“ und „Dream On“ aktiv. Dennoch hat dieses Werk nicht mehr viel mit seinen Vorgängern gemeinsam, zumal Mark Brzezicki zwar ein begnadeter Schlagzeuger ist, aber durch seine Art des Spielens sich von dem unterscheidet,

 

 

 

 

 

 

 

was Ultravox in der Rhythmusfraktion zuvor ausgemachte. Am ehesten ähnelt “Dream On“ noch den von früher bekannten Klängen. Überhaupt tauchen auf dem Album sehr viele Gastmusiker auf. Auch bei „The Prize“ singt Carol Kenyon im Background mit, und der Bläserpart wurde von Gary Barnacle, John Thirkell, Pete Thomas und Derek Watkins übernommen. Bei „Sweet Surrender“ griff Kevin Powell unterstützend in die Saiten des Basses. Und über allem natürlich der mit einem hohen Wiedererkennungswert ausgestatte Drumstil von Mark Brzezicki. Als musikalische Highlights dürfte neben den Chieftains demorchestralen „All In One Day“, welches Billy zusammen mit George Martin arrangierte, auch das keltische „All Fall Down“ mit den Chieftains angesehen werden. Deren Part wurde in Dublin in den Windmill Lane Studios aufgenommen. Doch diese beiden Songs bringen auch das Dilemma zum Ausdruck. Während „All In One Day“ Billys Werk ist, ist für “All Fall Down” Midge verantwortlich. Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass ausgerechnet diese beiden Songs noch als Singles ausgekoppelt werden sollten. Die gemeinsame Basis, auf der bisher die Songs von Ultravox entstanden sind, ist weg. In Deutschland reichte es für Platz 49, was der schlechtesten Platzierung aller Alben seit „Vienna“ entsprach. Und obwohl “U-Vox“ es auf Platz 9 der britischen Albumcharts schaffte, reifte innerhalb der Band die Erkenntnis, dass es kein gutes Album war. Und besonders Midge machte sich Gedanken in Richtung Zukunft. Selbst langjährige und eingefleischte Fans der Band sahen in den Songs des letzten Werkes nicht mehr, als eine zufällig wirkende Ansammlung. Besonders wurde der Sachverhalt bezüglich Warrens Ausstieg diskutiert, ohne den der typische Sound von Ultravox verschwunden war. Im Extreme Voice, dem britischen Fanzine schlechthin, wurde zwischen Veröffentlichung des Albums und anstehender Tour auf genau diesen Sachverhalt eingegangen: „Die Fans von Ultravox waren schon immer eine loyale Gemeinde" Die Band selbst war sich dessen bewusst und konnte sich darauf verlassen, dass wir auch nach ihrer sechsmonatigen Auszeit wieder da sein werden. Auch ein Jahr wäre noch erträglich gewesen, aber  zweieinhalb Jahre zwischen zwei Alben sind eine verdammt lange Zeit. Zwar gab es die Solo Tour zu ‚The Gift’, aber Midge Ure Solo ist eben nicht Ultravox. Hätte sich die Warterei dabei wenigstens gelohnt, hätte auch darüber noch hinweggesehen werden können. Doch unglücklicherweise ist ‚U-Vox’ ein Schritt rückwärts. Ihr Versuch der Weiterentwicklung endete in einem Mischmasch aus gewöhnlichem Chartfutter. Die prägenden Markenzeichen der Band sind dabei verloren gegangen. Der markante Funke, welcher bisher in den Songs zündete, ist erloschen. Die drei verbliebenen Bandmitglieder haben nie gesagt, warum Warren ausgestiegen ist. Wenn man den Interviews Glauben schenken darf, so lag es an musikalischen Differenzen. Wir denken, dass das absoluter Schwachsinn ist. Vermutlich liefen die Proben zum neuen Album alles andere als gut, und es wurde ein Bauernopfer gesucht. Zwischen Midge und Warren ist die Wahl innerhalb der Band dabei wenig überraschend auf Warren fallen. Dabei hat es den Anschein, dass am ehesten er noch am wirklichen Fortschritt der Entwicklung des Bandsounds interessiert war. Darum kennen wir keinen Fan, der den Aussagen der Band dahingehend glaubt. Es sind wir, die Fans, die über das Schicksal der Band bestimmen. Ultravox hat es geschafft, vom Kultstatus in den kommerziellen Selbstmord überzugehen. Das meiste des alten Materials ist von Warrens einzigartigem Rhythmus abhängig. Niemand kann das so spielen. Stellt Euch nur ‚Vienna’ ohne Warren vor. Wie sieht die Zukunft aus? Schon oft sah es so aus, als wäre es das Beste für Ultravox, einfach aufzugeben. Wir wollen das eigentlich nicht. Aber unsere Erinnerungen an die Vergangenheit sind weitaus besser als die der Gegenwert. Warum also nicht in der Vergangenheit leben, wenn das die weitaus bessere Alternative ist? Warren hat mit seinem Weggang neunzig Prozent von dem mitgenommen, was Ultravox ausmachte. Adieu Ultravox und vielen Dank für die Erinnerungen. Wir sind weg um zu schauen, was Warren macht.“ Deutlichere Worte aus Fankreisen konnte es kaum geben und die Akzeptanz mit diesem Artikel war elementar hoch. Erstaunlicherweise waren die Kritiken der Presse keinesfalls durchgängig schlecht. Natürlich bekam das Album in England von Alex Ogg von Allmusic die volle Breitseite, indem er den von Synthesizern dominierten Stil als überholt bezeichnete. Zwar sah er in „All Fall Down“ die einfallsreiche Ausnahme, tat aber dem Rest als „oberflächlichen Widerhall früherer Veröffentlichungen“ ab. Aber auch auf der Insel ging es anders. William Leith: „Das letzte Album von Ultravox ist ein Volltreffer.“ Und auch in Deutschland gab es durchaus Anerkennung. Jürgen Seibold: „Ultravox füllten Ihr neues Album mit clever kalkulierten Pop-Songs. Ihre satten Klänge aus dem Synthesizer umgeben die drei Briten so geschickt mit atmosphärisch dichten Arrangements, dass das Resultat lebendiger wirkt als mache Platte puristischer Gitarrenarbeiter.“ Wilfried Barbknecht: „Ultravox waren schon immer arger Kritik ausgesetzt. Insgesamt ist die Bandbreite um einiges erweitert worden. So sind ‚The Prize’ und ‚Same Old Story’ mit einer Bläsersektion und femininem Backgroundgesang aufgemotzt, ergeht ‚All In One Day’ in orchestralem Wahnsinn. Es wird nicht wenige geben, die Ure & Co. nach dieser Nummer den Gang zum Psychiater empfehlen werden. ‚All Fall Down’ hat es wirklich in sich. Sowohl textlich wie durch die sparsame Instrumentierung ragt dieser Track über den Rest hinaus. Mit dieser Platte sind Ultravox nicht auf Nummer sicher gegangen, sondern von ihrem Weg abgewichen. Resultat: Jeder wird etwas zum Lieben finden, jeder etwas zum Hassen.“ Stefan Mathias: „Das Warten auf Ultravox dürfte sich gelohnt haben.

Mit neun abwechslungsreichen Songs, darunter Edel-Pomp wie ‚All In One Day’, Schmacht-Fetzen (‚Dream On’) und jeder Menge Uptempo-Material kann und wird sich diese Band wieder in den Charts sehen lassen. Midge Ure ist eben nicht nur ein exzellenter Gitarrist und Sänger, sondern auch als Songschreiber eine Klasse für sich. Sein Stil (und davon hat er reichlich) prägt jede Note dieses Albums. Und das ist gut so.“ Musikexpress: „Für’s erste darf festgestellt werden, dass die Briten die Vitalität von Soul und Tamla Motown, die Schärfe pointierter Bläser und die Spannung von Call & Response entdecken. Dabei geraten ihre stilistischen Entdeckungsreisen nie zur plumpen Adaption. Stets behält die Mixtur aus den verschiedenen Genres einen typischen Ultravox- Geschmack. Das liegt nicht allein an dem Wiedererkennungswert von Midge Ures drängender Stimme, sondern vor allem auch an der charakteristischen Materialbehandlung. Da sind diese sirenenhaften Keyboardlinien, diese schwebenden Klangflächen, die Montage aus Rock-Gitarre, Elektronik-Spieldose und Pop-Refrain. Ein Balanceakt am Rande des Kitsches ist die von Geroge Martin zuckersüß arrangierte und dirigierte ‚All In One Day’-Suite. Viel besser: Das mit den Chieftains zwischen Folk und Elektro angesiedelte Untergangs-Epos ‚All Fall Down’. Am gelungensten: Die bläsergetriebenen, mit Zerr-Gitarre und Trompetensolo angereicherten, durch Carol Kenyon chorisch verstärkten ‚Same Old Story’ und ‚The Prize’.“Zweieinhalb Jahre lang war es ruhig um sie, und die Solo-LP von Sänger Midge Ure galt bereits als erfolgreicher Abgesang auf die britische Synthi-Band. Doch jetzt legen Ultravox auf ihrem aktuellen Album noch einmal kräftig zu. Sie verrühren sanften Pop, fetzige Rock-Rhythmen und klassisch klingende Orchester-Spektakel zu einer hitverdächtigen Mixtur.“ „Ultravox bestätigen ihre Kreativität durch Kompositionen mit hohem Gehalt, durchzogen mit weichfließenden Harmonien und ausgestattet mit breit angelegten Arrangements. Kurz: Perfekt gemachte Popmusik.“ Es ist logisch, dass die Fans immer zu Ultravox standen, während die sogenannten Fachexperten immer Gründe zur Kritik fanden. So erlangte die Band Kultstatus. Und ausgerechnet, als die Kritiken weniger negativ waren, distanzierten sich selbst hartgesottene Fans vom neuen Stil der Band. Ihnen war der Grat zwischen individuellem Anspruch und kommerziellem Mainstream offensichtlich zu schmal geworden.

Mit Beginn der Welttournee kurz nach Veröffentlichung des Albums, welche durch ganz Europa führte, zog Midge aus der Entwicklung der letzten Wochen und Monate seinen Entschluss, Ultravox nach Beendigung der Tour zu verlassen. In einer Unterredung teilte er Billy und Chris seine Entscheidung mit. Dass sich dann auch Chris ebenfalls zum Ausstieg entschloss, hat Billy bis auf eine persönliche Ebene hart getroffen. Midge versuchte ihm Alternativen aufzuzeigen, die sich ihm bieten würden, und dass ein Ende auch ein neuer Anfang sein könne. Aber Billy wollte davon nichts wissen und er war einfach nur frustriert. Der Rauswurf von Warren als Gründungsmitglied war auch ihm alles andere als leicht gefallen. Doch er glaubte aufgrund dieser Entscheidung an den Fortbestand der Band. Jetzt reifte in ihm aber die Erkenntnis, dass nicht Warren hätte gehen sollen, sondern Midge. Er fühlte sich nachhaltig im Stich gelassen. Midge selbst hielt die Trennung von Warren rückblickend zwar auch für falsch, aber aus einer anderen Sichtweise heraus. Für ihn war die Band bereits zum Zeitpunkt der Trennung am Ende und Warrens Rauswurf war für ihn lediglich der verzweifelte Versuch, das Unvermeidbare abzuwenden. Es konnte nicht funktionieren, weil eine der existenziellen Grundlagen des Bandsounds weg war. Doch diese unterschiedliche Betrachtung der Dinge sollte für das spätere Zerwürfnis zwischen Billy und Midge mitverantwortlich sein. Obwohl Billy kein echtes Gründungsmitglied war, ist Ultravox zu seinem Baby geworden. Midge war die Band auch wichtig, aber am Ende doch nur eine Station auf seiner Reise. So begann die Tour unter keinen guten Voraussetzungen. Billy war aufgrund der Ereignisse nicht richtig bei der Sache, während zusätzlich Midges intensiver Alkoholkonsum zu weiteren Problemen führte. Auch mit Chris Cross. Unterstützt wurde Ultravox auf der Tour neben Pat Ahern durch den schwedischen Gitarristen Max Abbey, dem Keyboarder und Violinisten Craig Armstrong und Danny Mitchell von den Messengers. Mitchell war bereits während der beiden letzten Touren von Ultravox mit an Bord und zusammen mit Armstrong auch Bestandteil von Ures letzter Solo-Tour. Für die „U-Vox“-Tour war es aufgrund Warrens Fehlen notwendig, den alten Songs eine neue Dynamik zu verleihen. Denn es war nicht das Ziel, seine Spielweise durch Pat Ahern kopieren zu lassen. Songs wie „Hymn“, „New Europeans“, „All Stood Still“ oder „Passing Strangers“ bekamen dabei ein völlig neues Intro, während andere Songs instrumental neu arrangiert wurden. Das lag auch daran, dass Midge durch den zweiten Gitarristen weniger Arbeit hatte. Auf das Drum-Solo am Ende von „The Voice“ wurde komplett verzichtet. Während der Tour erschien am 19. November 1986 das zuvor in den Albumkritiken bereist positiv hervorgehobene „All Fall Down“. Inhaltlich spiegelt es die Angst vor möglichen Konsequenzen des Kalten Krieges wider. Das Video dazu ist schlicht, aber eindrucksvoll. Es wurde zusammen mit den Chieftains aufgenommen, wobei das Blut der nach und nach symbolisch „getöteten Menschen“ in der finalen Einstellung die Landmasse der Erde darstellt. Das Design des Covers ist bis auf die Verwendung von Grün, Gelb und Schwarz mit denen der beiden vorherigen Veröffentlichungen identisch. Der Song erreichte Platz 30 in den Charts.
 
 

 

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe: Midge Ure und Billy Currie spielten am 2. Oktober 2008 anlässlich der Veröffentlichung der Remastered Definitive Edition von „Vienna“ eine akustische Version des Titelsongs in den Abbey Road Studios, welche vom britischen Sender Absolute Radio im Rahmen der Geoff Lloyd’s Hometime Show live gesendet wurde. Und das, nachdem beide über Jahre hinweg kaum dazu in der Lage waren, die Luft des gleichen Raumes zu atmen. Danach explodierte das Internet und die Foren rund um Ultravox schienen aufgrund unterschiedlichster Spekulationen geradezu überzulaufen. Dazu tauchten fast zeitgleich kleine Videoschnipsel im Internet auf, die unter anderem Midge Ure und Chris Cross zeigten, wie sie an „The Voice“ oder „Vienna“ arbeiteten oder auch nur Chris Cross, wie er den Bass-Lauf zu „Passing Strangers“ spielte. „Don’t ask me this question“, spricht er dabei abschließend in Richtung des (unbekannten) Kameramanns. Es stellte sich heraus, dass die vier Protagonisten anlässlich der Neuveröffentlichungen ihrer gemeinsamen Alben bereits vor dem gemeinsamen Radioauftritt von Billy und Midge Kontakt hatten. So entwickelte die Geschichte eine gewisse Eigendynamik, zumal in Chris O’Donnell, dem ehemaligen Manager der Band und mittlerweile bei Live Nation tätig, schon längst der Gedanke gereift war, dass die Zeit für eine Reunion gekommen war. Seiner Ansicht nach wäre es der optimale, wenn nicht gar letzte Zeitpunkt dafür. So sprach er die Bandmitglieder an und war vermutlich selbst überrascht, dass er keine Absage erhielt. Als nicht einmal zwei Monate später eine Tour in der Besetzung der erfolgreichen Ära zwischen 1979 und 1985 bestätigt wurde, schien tatsächlich die Hölle zuzufrieren. Denn laut Midge Ure würde eher das passieren, bevor es zu einer Reunion käme. Und das, ohne sich vorher persönlich getroffen, geschweige denn einen gemeinsamen Ton gespielt zu haben.

Allerdings waren nicht alle Fans bedingungslos begeistert und begegneten dieser Situation mit einer Spur Skepsis. Immerhin waren mehr als zwei Jahrzehnte vergangen und sie sahen der Möglichkeit ins Auge, dass der Mythos Ultravox angegriffen oder gar zerstört werden könnte. Dem gegenüber stand allerdings auch die Meinung, dass die Band aufgrund der unsäglichen Ereignisse rund um „U-Vox“ noch etwas zum Ende bringen müsste. Und dieser Standpunkt wurde von der Mehrzahl der Fans getragen. Die Band selbst sah es wohl ähnlich, denn die Bezeichnung der Tour als „Return To Eden“ hat offensichtlich etwas mit der Rückkehr zu einer Phase der eigenen Bandgeschichte zu tun, als man sich auf dem Höhepunkt des kreativen Schaffens wähnte. Vorher galt es aber logistische, technische und auch emotionale Probleme zu bewältigen. Denn bei aller Euphorie musste zunächst geklärt werden, ob die Narben der Vergangenheit, die damals zur Trennung von Warren und letztendlich zur Auflösung der Band geführt haben, geheilt sind und wie damit umgegangen werden würde. Außerdem waren Warren und insbesondere Chris, der als Psychotherapeut arbeitete, musikalisch nicht mehr aktiv. Es mussten Songs ausgewählt und auch geprobt werden, wobei aber die Technik der Gegenwart verwendet werden sollte, um auf den enormen Aufwand von damals verzichten zu können. Dabei durfte aber der Sound, welche das prägende Element der Band ist, auf keinen Fall verloren gehen.

Die Lösung waren virtuelle Instrumente, die mithilfe von Apple Notebooks und entsprechender Software rekonstruiert werden konnten. Jedes Bandmitglied hatte seine eigene mobile Station, wobei bei Aufruf des gewünschten Songs die Parameter über Logic entsprechend geladen werden konnten und sofort einsatzbereit waren. Ein Luxus im Vergleich zu früheren Zeiten, als es teilweise kein Midi zur Synchronisation gab und jeder Sound manuell eingestellt werden musste. Somit wurden nicht nur die Pausen zwischen den Songs erheblich verkürzt, sondern das Equipment reduzierte sich auf ein Minimum und der Soundcheck dauerte statt mehrerer maximal eine halbe Stunde. Billys prägendes Instrument, den ARP Odyssey, programmierte er mithilfe eines Keyboards der Firma Novation, was ihn viele Stunden an Arbeit kostete. Anfang 2009 kam dann der Punkt, den bisherigen Worten die entsprechenden Taten folgen zu lassen. Mit dem ersten Wiedersehen seit dem letzten gemeinsamen Auftritt bei Live Aid standen die Proben zur Tour an, die sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen hinziehen würden. Die ausgewählten Songs mussten wieder in Erinnerung gerufen werden und man musste sich mit der Technik vertraut machen. Und auch sämtliche Bedenken, ob die Ereignisse der Vergangenheit Auswirkungen auf die Zusammenarbeit und den Umgang miteinander haben würden, konnten endgültig über Bord geschmissen werden. Selbst Warren hegte trotz seiner besonderen Stellung in diesem Bild den Wunsch, mit der Band wieder den Sound zu kreieren, der Ultravox zu einer der besten Livebands überhaupt machte. Den anderen erging es nicht anders und der Geist früherer Tage schien kurz nach der Zusammenkunft so präsent, als wäre er nie weg gewesen. Während die Proben einschließlich Programmierung und technischer Abstimmung noch in London stattfanden, zog es die Band anschließend mitsamt der kompletten Crew für einige Tage in Richtung Nordwales, um dort unter Auftrittsbedingungen die Bühnenshow einschließlich Beschallung, Monitoring und Beleuchtung zu koordinieren. Trotz mehrfacher Möglichkeiten in London, entschied man sich dazu aus finanziellen und auch logistischen Gründen anders. Berenice Hardman, Tour-Managerin von Midge und zusammen mit Dave Claxton für die Beschallung vor und auf der Bühne zuständig, organisierte eine entsprechende Räumlichkeit in der Nähe ihres eigenen Wohnortes in Llandudno.

Angesichts der Tatsache, dass der erste Gig in Edinburgh stattfand, auch eine logistisch bessere Alternative, da die Hälfte des Weges in Richtung schottischer Hauptstadt bereits zurückgelegt wurde. Ungewohnt war für Billy, Warren und Chris dabei die Verwendung des In-Ear-Monitorings. Statt der Monitorboxen hatten sie lediglich Kopfhörer im Ohr, die für einen ausgewogenen und individuell angepassten Monitorsound sorgten. Um beim Spielen dennoch für das entsprechende Live-Feeling zu sorgen, wurden in das Publikum gerichtete Mikrofone am vorderen Rand der Bühne aufgebaut und dem Monitormix entsprechend zugeführt. Am 10. April 2009 startete die Tour in Edinburgh, welche zunächst auf Großbritannien beschränkt war. Und um in Sachen „Retro“ auch wirklich alles getan zu haben, bekam Ultravox bzw. das Tour-Management die Erlaubnis, auf den Konzertplakaten wieder das Design des originalen Plattencovers der „Rage In Eden“ zu verwenden. Viele Fans außerhalb des Vereinigten Königreichs waren sich nicht sicher, ob es noch andere Gelegenheiten geben würde, Ultravox sehen zu können. Darum pilgerten sie scharenweise auf die Insel und sorgten für multikulturell ausverkaufte Hallen. Und es gab weitere gute Nachrichten: Bis auf „Monument“ gibt es bisher keinen offiziellen Livemitschnitt. Und so wurde das Konzert im Londoner Roundhouse am 30. April 2009 dazu auserwählt, sowohl akustisch als auch visuell aufgezeichnet zu werden.

 

 

Moments From Eden

Während Ultravox sich anschickte, ein neues Album aufzunehmen, erschien am 2. Mai 2011 die EP „Moments From Eden“. Offensichtlich lag es auch weiterhin im Bemühen der Band das nachzuholen, was in den Achtzigern versäumt wurde. Darum enthielt „Moments From Eden“ genau die drei Songs, die der Setlist hinzugefügt wurden. Zusammen mit „Live At The Roundhouse“ wurde die Bühnenpräsenz zumindest akustisch komplettiert. Außerdem enthält die EP noch „Herr X“, also die deutsche Version von „Mr. X“, welche im Berliner Admiralspalast als Hommage an die deutschen Wurzeln der Band, die unter anderem bei „Neu!“, „Kraftwerk“ oder „La Düsseldorf“ liegen, aufgezeichnet wurde. Allerdings ist die Version auf „Moments From Eden“ nicht dem Konzert selbst entnommen, sondern dem vorherigen Soundcheck. Am Abend sang Warren dann doch wieder in Englisch. Das Design der EP von Rian Hughes, selbst bekennender Ultravox-Fan, hat seinen Ursprung auch in der politischen Kälte der Achtziger. Die Trennung Deutschlands durch die Mauer inspirierte ihn dazu, unter anderem Bilder Berlins als Grundlage für das Design zu verwenden. Dabei kommt dem Begriff Wiedervereinigung, als emotionaler Brückenschlag zu den Ereignissen rund um die Band, nirgendwo sonst auf der Welt eine größere Bedeutung zuteil als in der Hauptstadt Deutschlands. Ferner resümiert er, dass die Songs während der Hochphase des Kalten Krieges entstanden sind und lässt diese Stimmung sowohl farblich als auch bildlich einfließen.

Im Booklet werden den avantgardistisch anmutenden Bildern Auszüge der entsprechenden Songtexte zugefügt. Bei den römischen Zahlen (1980 und 1981), die auf dem Cover zu finden sind, hat Hughes sich allerdings vertan. Diese sollten eigentlich die Erscheinungsjahre der Songs dokumentieren. Das „White China“ und „Love’s Great Adventure“ aus dem Jahr 1984 sind, wurde ihm erst später bewusst. Bei seinem Design für „Mr. X“ auf der Rückseite des Covers scheint sich dabei ein Kreis zu schließen, da er sich dabei an den Grafiken zu den gleichnamigen Vortex-Comics von Dean Motter und Paul Rivoche orientiert, die Anfang der Achtziger erschienen waren.

Erstaunlich deshalb, weil sich Motter selbst von dem Song „Mr. X“ von Ultravox zur Erstellung des Comics inspirieren ließen. Als Reminiszenz an das vor dreißig Jahren erschienene Album „Rage In Eden“, hat ‚der‘ Mr. X auf Hughes Version das Pferdelogo auf dem Revers seiner Jacke. Für Hughes selbst war es eine Ehre, für „New Europeans“, seinem eigenen Lieblingssong der Band, ein Cover entwerfen zu dürfen. Der Fehler, dass in der linken Textbox München statt Berlin als Ort der Aufnahme angegeben ist, fiel den Fans zwar sofort auf; wurde aber als weniger tragisch angesehen. Zunächst war geplant, die EP auch nur als 10“-Version in rotem Vinyl herauszubringen. Doch wurde nachträglich entschieden, dem Package auch noch die passende Version als CD beizufügen. Insgesamt ein Stück Ultravox, dass von der Qualität her aufgrund des Klappcovers mit strukturiertem Druck, dem beigefügtem Booklet, dem roten Vinyl und dem musikalischen Inhalt selbst in jede Sammlung gehört. Ob gewollt oder nicht, es bringt die Achtziger ein Stück weit wieder zurück. Oder uns zurück in die Achtziger. Kommt auf den Blickwinkel an.

 

 

Brilliant Beginnings (DVD)

Ultravox, während sie über die Struktur neuer Songs diskutieren? Ultravox im Studio, wie neue Songs aufgenommen werden? Ultravox während der Proben? Ultravox Backstage on Tour? Ultravox mit Einblick in das persönliche und private Seelenleben? Undenkbar. Undenkbar? In den Achtzigern schon. Das Leben hinter der Musik war ein gut gehütetes Geheimnis. Ultravox verschaffte sich durch den Vorhang des Schweigens den Status der Unnahbarkeit, was ihnen gleichzeitig auch den Vorwurf der Arroganz einbrachte. Berichte in Zeitschriften und Fernsehauftritte wurden durch die Fans wie Heiligtümer verehrt und den Sammlungen hinzugefügt. Bildmaterial außerhalb des öffentlichen Lebens gab es nur selten in Form von einigen Fotos, die während der Produktionsphasen der Alben oder während der Tourneen gemacht wurden. Ultravox legte sehr großen Wert darauf, das erlangte, schon fast mystisch anmutende Image aufrecht zu erhalten. Erst viele Jahre nach Auflösung der Band ließen Midge Ure durch seine Biographie und Billy Currie durch wortgewaltige Interviews den Vorhang fallen und gewährten Einblick in das Mysterium Ultravox. Es mag nicht das vollkommene Klischee von Sex, Drugs & Rock’n Roll gewesen sein, das die Welt hinter dem Rampenlicht prägte. Doch Sex & Alkohol waren mitunter durchaus Bestandteil des damaligen Tagesablaufs. Dazu kommt, dass vier Charaktere Probleme hatten, ihr Ego zugunsten eines gemeinsamen Zieles hinten anzustellen.

Demnach ist der Grad der Zurückhaltung und die Limitierung der Einblicke in das Bandleben der damaligen Zeit durchaus nachvollziehbar. Und noch Mitte des letzten Jahrzehnts schienen die Gräben zwischen den Mitgliedern unüberbrückbar. Was ist passiert? Läuterung? Weisheit? Imagewandel? Oder einfach nur der Wunsch, auf weitere Fassaden-Spiele zu verzichten. Bereits mit „Building Eden“ machte Ultravox alles anders als früher. Von Anfang an haben sie sich dazu entschlossen, die Fans mit einzubeziehen. Wie oft träumten die davon, dass sich alle Vier wieder im gleichen Raum aufhalten, um neuerlich gemeinsam Musik zu machen. Und genau diesen Augenblick schenkte Ultravox den Fans. Dazu gewährten sie noch viele andere Einblicke und ließen die Fans an magische Momente teilhaben, was an sich schon als historisches Ereignis bezeichnet werden kann. Und was mit „Building Eden“ begann, findet in „Brilliant Beginnings“ seine Fortsetzung.

Für Fans der Band, die Jahrzehnte von den Relikten der Vergangenheit zehrten, sorgen die jetzt gewährten Einblicke für kollektive Reizüberflutung: Interviews, Proben, Sight-Seeing, Backstage-Romantik, Studio-Alltag, Song Writing, Touring, Vertragsverhandlungen und vieles mehr. „Brilliant Beginnings“ ist ein Dokument, welches beim Fan keine Wünsche offen lässt. Dazu der Ausblick, dass im Sommer 2013 ein weiteres Konzertvideo zu Brilliant-Tour veröffentlich wird. Somit reift bei den Fans die Hoffnung, dass darauf die im Mai 2011 endende Geschichte von „Brilliant Beginnings“ zu Ende erzählt wird. Und weitere Kapitel hinzugefügt werden.

 

 

Brilliant

Schon während der beiden Reunion-Touren kam die Frage auf, ob es denn auch ein neues Album sei etwas völlig anderes, als zusammen auf Tour zu gehen, um die alten Songs zu spielen. Er sprach dabei allerdings nicht für sich selbst, sondern im Namen der Band. Dennoch stand es so unter anderem auch im Tourbook zur „Return To Eden 2“ -Tour. Und das ärgerte Billy. Er war seit Beginn der Reunion von der Idee angetan, gemeinsam wieder Musik zu machen. Und mit fortschreitender Zeit war ein neues Album der Band aus seiner Sicht schon längst nicht mehr die Frage, ob es passieren würde, sondern wann. Abgesehen von der vielen Arbeit und den emotionalen Hürden, die genommen werden mussten, hatte er Spaß daran, erneut mit Ultravox unterwegs zu sein. Und er konnte sich durchaus schon viel früher damit anfreunden, wieder ein gemeinsames Album zu machen. Anfangs hatte zwar auch er Bedenken, wie es denn im Kollektiv wieder klappen würde. Doch schon gegen Ende der „Return To Eden“ -Tour verflog diese Skepsis und er stellte erleichtert fest, dass es sowohl emotional als auch musikalisch funktionierte. Auch für Warren stand, kurz nachdem sie wieder zusammen spielten, fest, dass er mehr machen wollte als nur „Return To Eden“. Chris hingegen stand der Sache zunächst ebenfalls eher distanziert gegenüber. Doch die Meinungen von ihm und Midge änderten sich im Verlaufe der weiteren Zusammenarbeit und als die deutsche Plattenfirma Universal anfragte und einen Plattendeal für ein neues Album anbot, waren auch sie davon überzeugt, dass die Arbeit an neuen Stücken durchaus Sinn machen könnte. Allerdings behielt man diese Möglichkeit zunächst unter Verschluss und fern der Öffentlichkeit, um im Falle eines Scheiterns nicht in Erklärungsnot zu geraten. Als Ort für die anstehenden Arbeiten schlug Midge seine Blockhütte in der kanadischen Einsamkeit vor. Dort schlossen sich Billy, Chris und Midge musikalisch unbefangen ab Anfang September 2010 für einige Zeit ein, um mit den notwendigsten Instrumenten, technisch aber sehr anspruchsvollem Equipment, mit dem Schreiben neuer Songs zu beginnen. Erst vor Ort stellte sich dann heraus, dass es sich nicht nur um ein „Brainstorming“ handelte, sondern bereits um den Aufnahmeprozess. Dabei bekam jeder sein eigenes Zimmer und seinen eigenen Notebook. Ein viertes Notebook diente als zentrales Medium, mit dem die erarbeiteten Ideen zusammengeführt wurden.

Somit waren sie in der Lage, ohne externe Hilfe nicht nur zu komponieren, sondern die Ergebnisse auch gleich in einer Qualität aufzunehmen, die dem Standard und dem Anspruch einer modernen Musikproduktion entsprachen. Erstaunlich war allerdings, dass ausgerechnet Warren als Kanadier nicht mit dabei war. Er musste aufgrund beruflicher Verpflichtungen in Los Angeles verweilen, blieb aber per Internet über die Entwicklung auf dem Laufenden, um sich vor Ort seine Gedanken hinsichtlich der in der Folge einzuspielenden Drums zu machen. Bevor man sich der Aufgabe eines neuen Albums stellte, wurde über den Sachverhalt seiner Abwesenheit gesprochen. Und offensichtlich konnte man sich mit einer derartigen Arbeitsweise arrangieren, was bestätigt, dass dieses Arrangement tatsächlich einen logistischen und keinen emotionalen Ursprung hat. Warren selbst bedauerte es, beim Prozess des Song-Writings nicht mit dabei gewesen zu sein. Die restlichen drei Bandmitglieder stellten sehr zügig fest, dass die Bedenken hinsichtlich der neuen Zusammenarbeit unbegründet waren. Bei früheren Produktionen gerieten insbesondere Midge und Billy aneinander. Doch letztendlich war alle Angst umsonst, weil der Druck, ein Album fertig stellen zu müssen, nicht da war. Im schlimmsten Fall wäre nichts passiert und die Aufnahmen hätten nie den Weg an die Öffentlichkeit gefunden. Doch es harmonierte und man komponierte nicht nur zusammen, sondern lebte zeitgleich wie in einer Wohngemeinschaft, in der sie nicht nur an der Musik arbeiteten, sondern sich auch selbst verpflegten. Eine Erfahrung, von der sie vorher nicht geglaubt hätten, dass sie funktionieren würde. Die Nutzung der neuen Technik öffnete neue Türen in Sachen Song-Writing und auch sonst hat man aus der Vergangenheit gelernt, wodurch die gemeinsame Arbeit in gegenseitigem Respekt und im entsprechenden Umgang miteinander mündete. Die Chemie stimmte sowohl musikalisch als auch emotional und Differenzen wurden diplomatisch gelöst und mündeten nicht wie früher im Streit. Da mag es hilfreich gewesen sein, dass Chris Cross in den vergangenen Jahren im Bereich der Psychologie tätig und somit in der Lage war, aufkommende Unstimmigkeiten entsprechend abzuwenden. Im Allgemeinen beschreibt die Band die neuerliche Zusammenarbeit als harmonisch und erfrischend, ohne dabei die Hektik früherer Produktionen aufkommen zu lassen. Für die Arbeit am neuen Album unterbrach Billy die Arbeit an seinem Soloalbum. Er überlegte zuvor, ob er Ideen, die er dafür verwenden wollte, bei Ultravox einbringen sollte. Doch davon löste er sich wieder und so gingen sie bildlich gesehen mit einem weißen Blatt Papier in Midges Haus, um von Grund auf neue Songs zu schreiben. Abgesehen davon war es für alle - insbesondere aber für Billy - eine neue Erfahrung, mitunter auch schon mit Texten arbeiten zu können. Zwar war auch jetzt die Musik zuerst da, aber Midge war offensichtlich so inspiriert, dass er schon zur Phase des Song-Writings textliche Ideen einbringen konnte. Eine Erfahrung, die Billy als sehr angenehm ansah.

Als erster Song wurde „Hello“ geschrieben. Laut Ansicht der Band selbst noch nicht das Maß aller Dinge, doch der Wegweiser für das, was noch kommt. Dabei wurde erst gar nicht versucht, sich selbst zu kopieren, um etwaigen Vergleichen mit früheren Werken standhalten zu können. Im Januar 2011 kündigte Billy auf seiner Website bereits die Zusammenarbeit mit Universal hinsichtlich der Veröffentlichung eines neuen Ultravox-Albums an. Man habe seit dem letzten Herbst genug Material dafür erarbeitet, welches nahezu fertig sei. Er bestätigte erneut, dass die Touren anlässlich des 30jährigen Jubiläums dafür Sorge trugen, dass sie diese tolle Zeit nicht so einfach enden lassen wollten. Dieses Gefühl der Zufriedenheit, wieder auf der Bühne stehend in die vertrauten Gesichter zu blicken, während die gemeinsam geschriebenen Songs gespielt wurden, sollte in die Gegenwart transferiert werden. Und als man sich hinsetzte und versuchte neue Songs zu schreiben, klappte es einfach. Es war kein Album, das gemacht werden musste, sondern gemacht werden wollte. Allerdings entwickelte sich die Geschichte mit Universal anders als erwartet. Universal wollte eine völlig andere Richtung einschlagen, als es den Vorstellungen der Band entsprach und mischte sich soweit ein, dass man durch die Zusammenarbeit mit diversen Produzenten andere Ergebnisse erzielen wollte. Wie schon früher, konnte dem Wunsch nach Demobändern nicht entsprochen werden, weil es sich bei den Aufnahmen bereits um Master-Aufnahmen handelte. Der Gedanke, dass externe Songwriter hinzugezogen werden sollten, ließ die bisherige Skepsis hinsichtlich der Ansichten Universals weiter reifen. Selbst auf die Gefahr hin, dass die bisherige Arbeit nie an die Öffentlichkeit kommen würde, distanzierte sich Ultravox von Universal. Stattdessen nutzten sie die Gelegenheit und entwickelten die Songs in die für sie richtige Richtung. Man vertraute drauf, dass sich andere Wege finden würden, denn Ultravox selbst war von den neuen Kompositionen überzeugt. Nach Fertigstellung des Großteils der grundlegenden Aufnahmen, traf man sich mit Warren in Los Angeles, damit er dort mit Tom Weir bei Studio City Sound die noch fehlenden Drum-Spuren einspielen konnte. Anschließend kehrte jeder nach Hause zurück, um in Eigenarbeit noch an den Aufnahmen zu feilen.

Diese Arbeitsweise wäre zu früheren Zeiten undenkbar gewesen, doch dank des Einsatzes digitaler Medien und der entsprechenden Software mit virtuellen Instrumenten war es möglich, die jeweiligen Spuren später wieder zusammenzuführen. Natürlich wurde dennoch auf die klassischen Instrumente wie Gitarre, Schlagzeug, Bass und Billys Streichinstrumente zurückgegriffen. Und auch wenn sein ARP Odyssey zuletzt auf der Bühne simuliert wurde, so kam er jetzt im Studio „ich echt“ zum Einsatz. Allerdings musste das Instrument, welches tatsächlich das Gerät aus den Siebziger Jahren war, technisch überholt und vor allem gestimmt werden. Pete Wood, ein alter Freund von Billy aus Huddersfield und teilweise auch für Ultravox tätig, übernahm diese Aufgabe. Aber so ganz im Alleingang, wie es früher mitunter bei Ultravox der Fall war, wollte man das neue Album dann doch nicht zum Abschluss bringen. Darum wurde als Produzent Steven Lipson, der unter anderem schon mit Frankie Goes To Hollywood, Propaganda, Grace Jones und Annie Lennox gearbeitet hat, auserwählt, der Musik in den Sarm Studios und den Battery Studios den entscheidenden Schliff zu geben und dem Album Struktur zu verleihen. Eine Entscheidung, die rückwirkend betrachtet von der Band als sehr gut angesehen wurde. Insbesondere, weil sich Lipson nicht davor scheute, die Wahrheit zu sagen, falls seiner Ansicht nach etwas nicht stimmig war oder schlichtweg nicht passte. Mitunter forderte er die Musiker auf, Passagen zu überarbeiten oder gar neu einzuspielen, wie es unter anderem bei „Hello“ und „Remembering“ der Fall war. Midge sah in Lipson zwischenzeitlich sogar ein fünftes Bandmitglied und Billy war von seiner Energie angetan sowie von seiner unermüdlichen Hingabe für die Bearbeitung der Drums und des synthetischen Basses. Er war im Grunde auch dafür verantwortlich, dass während dieser Phase mit „Brilliant“ und „Satellite“ noch zwei weitere Stücke den Weg auf das Album fanden. Die Band wähnte sich zuvor mit zehn fertigen Stücken eigentlich schon am Ende der Arbeit. Als es dann aber darum ging, die Songs in die richtige Reihenfolge zu bringen, brachte Lipson ein, dass zwei schnelle Up-Tempo-Nummern dafür sorgen würden, dass das Album wesentlich ausgeglichener klingen würde. Auch in diesem Bereich begab sich Ultravox auf neues Terrain.

Denn mit der Mentalität der Achtziger wäre nicht daran zu denken gewesen, dass sich die Band in das musikalische Konzept hätte reinreden lassen. Die Band war eine eigene Welt und Informationen, die Änderungsvorschläge beinhalteten, prallten bereits am Charisma ab. Selbst frühere Produzenten wie Conny Plank und George Martin hatten allenfalls unterstützende Funktion. Doch die Position von Steven Lipson war anders. Er komponierte zwar nicht mit, doch wurde seine weisungsbefugte Rolle als temporäres Bandmitglied anerkannt. Zu diesem Zeitpunkt bewegte man sich mit der gesamte Produktion auf der Suche nach einem Label noch in einer Art Schwebezustand. Chris O’Donnell stand sogar immer noch mit Universal in Verbindung, was aber zu keinem neuen Ergebnis führte. Man empfand diese Situation als befremdlich, weil früher ein fertiges Produkt lediglich bei der Plattenfirma zur Veröffentlichung abgegeben wurde. Jetzt hatte man auf der einen Seite noch kein Label und auf der anderen Seite konfrontierten Produzent und Manager Chris O’Donnell die Band mit der Ansicht, dass das Album entgegen der Meinung der Band selbst doch noch nicht fertig sei. Eine ungewohnte Entwicklung, mit der sich Ultravox aber auseinandersetzen musste und nach Überwindung eines gewissen Ärgers und Frustes auch tat. Songs wie „Remembering“ wurden überarbeitet und Billy Currie brachte Basiselemente für neue Songs ein, aus denen sich „Brillant“ und „Satellite“ entwickelten. Kurioserweise steht „Brillant“ dabei für genau diese Ultravox- DNA, weil der Song durch den Austausch von Strophen- und Instrumentalteilen zu dem wurde, wie er sich auf dem Album präsentiert. Dabei waren es Chris und Midge, die Billys Idee in eine andere Reihenfolge brachten. Allerdings war diese Phase wohl auch die schwerste im Entstehungszyklus des Albums, weil sich die Dinge für eine Band wie Ultravox sehr ungewöhnlich entwickelten. Somit ist auch zu erklären, warum sich die Fertigstellung des Albums so lange hinzog. Doch die Einschätzung, dass sich neue Wege zur Veröffentlichung finden würden, erwies sich letztendlich auch als richtig. EMI war bereits für die Neuveröffentlichungen der alten Alben verantwortlich und legte somit überhaupt den Grundstein zur Wiedervereinigung. Außerdem hatte EMI seinerzeit Chrysalis übernommen und aus einer Art der Verbundenheit entschied sich Ultravox, den weiteren Weg gemeinsam zu gehen. Und das, obwohl es auch diesem Giganten der Plattenindustrie alles andere als gut ging. Doch letztendlich wurde man sich einig und im Frühling 2012 konnte das Datum der Veröffentlichung bekanntgegeben werden.

Natürlich kursierten - seit bekannt war, dass es ein neues Album geben wird – unglaubliche Gerüchte rund um das, was da entsteht. Wie wird es heißen? Wie sieht es aus? So lautete ein potenzieller Name „End Of The Odyssey“ in Anlehnung daran, dass die Irrfahrt der Band doch noch ein Happy End bekommt. Doch es kommt anders und der Titel des Albums lautet „Brilliant“. Die Uraufführung des gleichnamigen Titelsongs fand am 17. April 2012 bei Ken Bruce auf BBC2 Radio statt und die Resonanz war überwiegend gut bis sehr gut. Einige sahen sich bestätigt, dass er wie erwartet nicht so klang, wie es hätte sein müssen, um dem Namen Ultravox gerecht zu werden. Doch der Großteil der Hörer und Fans sahen die Reise der Band als vollendet an. Die Odyssey hatte, obwohl das Album nicht so heißt, ein Ende gefunden. Nicht wenige fragen sich sofort, ob der Titel etwas mit maßloser Selbstüberschätzung zu tun hat. Doch relativiert sich diese Thematik, nachdem am 24. April auch das dazugehörige Cover veröffentlicht wurde. Allerdings musste Midge in diversen Interviews schon deutlich darauf hinweisen, wie das Design - der ausgestanzte Name auf einer Schriftrolle - zu verstehen ist.

Verantwortlich zeigte sich dafür Darren Evans und die zunächst interpretierte Anmaßung entpuppt sich nach näherer Untersuchung in Richtung tiefgründiger Kritik. Denn die marmorierte Schriftrolle formiert sich zu einem Fragezeichen, welches die „Brillanz“, die der reine Titel des Albums primär suggeriert, hintergründig zum Nachdenken über die Entwicklung der Musikindustrie anregen soll. Darum ist die Wahl des Titeltracks als erste Single im Kontext mit dem Cover auch kein Zufall, da der Text von der angeblich heilen Welt des Musikgeschäftes mit der Kehrseite des Ruhms handelt. In diesem Zusammenhang ist vermutlich auch das zweite „I“ im Albumtitel zu sehen, da es auf dem Kopf stehend einem Ausrufezeichen ähnelt. Die persönliche Note im Design des Bandnamen ergibt der dünne, leicht schräg verlaufende Querstrich beim Buchstaben „A“. Auffällig ist außerdem, dass einschließlich des Titelsongs alle Songs aus nur einem Wort bestehen. Das war nicht von Beginn an so geplant und eher Zufall. So wurde nachträglich das „The“ bei „Change“ und „Remembering“ entfernt, nachdem die halbkreisförmige Anordnung der Songtitel zur Anwendung gekommen ist. Am 25. Mai 2012 war es soweit und das Warten hatte nach achtundzwanzig Jahren ein Ende. Ein Ende, auf das nur vier Jahre vorher niemand einen Pfifferling gesetzt hätte. Die Single, welche eigentlich keine war, da sie nur als Download zu bekommen war, erreichte keine Chartplatzierung. Das Album hingegen stieg in den britischen Charts am 9. Juni auf Platz 21 und in den deutschen Charts auf Platz 27. Im Vergleich zu früheren Platzierung natürlich wesentlich schlechter, doch zeigte sich Chris Cross darüber verwundert, dass es das Album überhaupt so weit nach oben schaffte. Ultravox selbst wurde auch nicht müde zu erklären, dass es ihnen in erster Linie nicht um den kommerziellen Erfolg, sondern um die musikalische Identität und Selbstverwirklichung ging. Wäre diese Aussage zwischen 1979 und 1986 getätigt worden, hätten berechtigte Zweifel an der Glaubwürdigkeit daran aufkommen können. In der Gegenwart darf diesem Standpunkt jedoch ein hohes Maß an Integrität zugesprochen werden. Dennoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass es diese Kombination der Fähigkeiten von vier Individualisten ist, die im Kollektiv etwas schaffen, wozu jeder alleine nicht fähig ist. Nur Billy Currie, Warren Cann, Midge Ure und Chris Cross können diese DNA bilden, um den prägenden Sound von Ultravox zu erschaffen. Und dabei wurde wieder mal bewiesen, dass die Summe des Ganzen größer als die Summe des Einzelnen ist. Der Grat zwischen musikalischer Gegenwart und altbewährten, wie dem für den Sound von Ultravox typischen ARP Odyssey und Billys wieder ausgiebig verwendeter Geige, wurde gesucht und auch gefunden.

Die Symbiose zwischen Vergangenheit und aktueller Frische, um sich dem Vergleich mit Band wie The Killers oder auch Muse stellen zu können. Jede Band behauptet dabei immer, dass das neueste Album auch das beste Album sei. Auch bei „Brilliant“ ist das nicht anders. Allerdings unter dem Aspekt, dass es vielleicht kommerziell gesehen nicht das erfolgreichste Werk ist, dafür aber emotional betrachtet. Und dass ist das entscheidende Kriterium der Band; „Brilliant“ diesen Status zuzusprechen. Textlich ordnet Midge die Entwicklung anders ein als früher. Damals seien seine Texte inhaltlich unpräzise gewesen und er benutzte Worte eher wie einen Energiefluss. Es konnte viel hinein interpretiert werden, ohne dabei eine spezielle Geschichte zu erzählen. Bei „Brilliant“ sei das etwas anders, da in den vielen Jahren neue Erfahrungen gemacht wurden. Insbesondere durch die Trennung von Warren und die Bandauflösung in einem anderen Licht als der damaligen Meinung zu sehen. „Change“ könnte der Titel sein, die eigene Bandvergangenheit zu verarbeiten. Oder „Remembering“ als Dokument der Vergänglichkeit, da nichts für immer bleibt, doch die Erinnerung an die Vergangenheit diese lebendig erhält. „Contact“ spielt auf die zunehmende Vereinsamung durch die neuen Median an.

Demnach darf das Album durchaus als eine Art Tagebuch betrachtet werden. Auch bei den Texten hat Chris‘ psychologischer Hintergrund mit seinen Erfahrungen beim Umgang mit Menschen und deren Reaktionen auf bestimmte Ereignisse und Situationen Einfluss genommen. Die Frage, warum es zu „Brilliant“ kein Video gibt, bleibt weitestgehend unbeantwortet. Visuelles Airplay hätte den Verkaufszahlen von Single und Album sicher gut getan und vielleicht auch dafür gesorgt, dass „Brilliant“ nicht schon nach einer Woche wieder aus den Charts geflogen wäre. Allerdings war der Band klar, dass sie selbst als Akteure nicht darin würden auftreten wollten. Abgesehen von den kurzen Live-Einblendungen, haben sie ähnliches bei „Visions In Blue“ bereits gemacht. Vermutlich wurde aus einer Kombination von Kosten und Zögern auf die Produktion eines Videos gänzlich verzichtet.

„In den Achtzigern gehörten Bootlegs auf Kassette zu den Heiligtümern jeder Ultravox-Sammlung. Und wer sogar die ‚Echoes Of Pleasure’ und die ‚Live In Rimini 1981’ auf Vinyl hatte, konnte sich glücklich schätzen. Denn offizielle Live-Aufnahmen wurden nur sporadisch als B-Seite veröffentlicht. Die erste offizielle Live-CD war ‚Monument’, die aber auch lediglich fünf Live-Songs enthielt. Wer sich in den Neunzigern mit der Einführung der Home-Computer nicht schon selbst seine eigenen Zusammenstellungen auf Compact Disc gebrannt hatte, wurde dann zumindest mit Veröffentlichungen wie ‚Ultravox Rare 1+2’ sowie ‚Ultravox In Concert’ befriedigt.

Im neuen Jahrtausend öffneten dann endlich die Archive in Form der EMI Re-Releases. Darunter befand sich auch bisher unveröffentlichtes Live-Material. Und seit der Reunion ist Ultravox alles andere als in den Achtzigern stehengeblieben. Zwar hätte dem neuen Album und der Tour ein bisschen mehr Werbung gut getan. Doch in Sachen Fanarbeit lassen sie keine Wünsche offen. Das Highlight unter den vielen Merchandise-Artikeln ist mit Beginn der Deutschland-Tour die Live CD ‚Ultravox Live 2012’, einem Mitschnitt des Konzertes im Londoner Hammersmith kurz zuvor. Das wäre früher undenkbarer gewesen.

So ist es aber einfach fantastisch, erst das Konzert besucht zu haben, um es dann auf dem Weg nach Hause bereits in bester Qualität schon Revue passieren lassen zu können. Ultravox hat zweifelsfrei erkannt, dass die Fans ein immenses Nachholbedürfnis auf allen Ebenen haben.